"Die Neutralität hat sich als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen"
Univ.-Prof. Dr. Heinz Gärtner ist wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik in Wien und Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. europäische und internationale Sicherheitspolitik, Theorien der Internationalen Beziehungen, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie transatlantische Beziehungen. Im KURIER-Interview spricht er über die Entwicklung der österreichischen Neutralität seit 1955 und die Chancen und Probleme, die die Neutralität mit sich bringt.
KURIER: Wie ist es bestellt um die österreichische Neutralität anno 2015?
Gärtner: Die Neutralität hat sich verändert. Sie hat sich dabei aber als erstaunlich anpassungsfähig und widerstandsfähig erwiesen. Und die Neutralität wird oft als Kind des Kalten Krieges bezeichnet, was sie ja nicht wirklich war. Das Konzept der Neutralität ist ja viel älter, die Schweizer Neutralität geht zurück bis zum Wiener Kongress. Das Prinzip ist eine Mischung zwischen sich-heraushalten und sich-einmischen. Und während des Kalten Krieges haben die Neutralen gesagt, wir halten uns von den Blöcken heraus.
Die Neutralen haben es auch verstanden, ihre Rolle auszunutzen: Mit Vermittlung, Konferenztätigkeit, Gipfeltreffen, Ansiedlung von internationalen Organisationen und einer unabhängigen Rolle bei Rüstungskontrollfragen. Österreich unter Bruno Kreisky hat das zelebriert. Kreisky war eine Person, die die Nische der Neutralität bestens ausnutzen konnte.
Dann war der Kalte Krieg aber vorbei...
Nach dem Kalten Krieg blieb das Konzept der Neutralen, dass sie keinem Militärbündnis beitreten dürfen. Die NATO ist übrig geblieben als einziges Militärbündnis - und das ist die Beschränkung von neutralen Staaten, aber wie man gesehen hat gleichzeitig auch ein Vorteil. Nach Ende des Kalten Krieges war das Thema Krisenmanagement. Und da haben manchmal, nicht immer, Neutrale einen Vorteil, da sie eben nicht als Teil eines Bündnisses oder Großmachtinteressen gesehen werden, wenn es um peacekeeping-Operationen geht. Typisches Beispiel war die EU-Mission bzw. später die UN-Mission im Tschad, wo man einen irischen Oberkommandeur gehabt hat und das Spezialkommando hat man den Österreichern übertragen. Warum hat man das gemacht? Um zu zeigen, dass die Operation nicht rein französisch ist. Da hat die EU entdeckt, dass die Neutralen eine bestimmte Rolle haben.
In der NATO gibt es das Konzept der kollektiven Verteidigung, wo Neutrale nicht teilnehmen dürfen. Eine Bündnisverpflichtung heißt ja, dass man den Bündnismitgliedern verspricht, mit ihnen in einen Krieg zu ziehen – ohne Wenn und Aber. Das ist für einen Neutralen nicht möglich. Die NATO war aber schlau und hat im Balkankonflikt das Prinzip des Krisenmanagements entwickelt. Da hat Österreich seine Rolle sehr gut wahrgenommen.
Das heißt in der NATO-Partnerschaft für den Frieden darf und kann Österreich sehr wohl dabei sein?
Österreich soll sogar hier mitmachen. Die NATO-Partnerschaft für den Frieden hat freilich an Bedeutung verloren, nachdem sehr viele osteuropäische Staaten Mitglieder der NATO geworden sind. Aber die NATO versucht "global Partner" aufzubauen, die auch Friedensoperationen übernehmen und es wäre sinnvoll, die Partnerschaft für den Frieden und die globalen Partnerschaften zu verbinden. Da kann sich Österreich eingliedern.
Und in der EU gib es die so genannten Petersberger Aufgaben, das sind Krisenmangenmentaufgaben und die Möglichkeit Solidarleistungen zu erbringen, z.B. nach Terrorattacken in einem Mitgliedsland, Katastropheneinsätzen u.ä - aber nur auf Einladung des betroffenen Staates natürlich.
Jetzt gibt es aber Gegentendenzen, sowohl in der NATO als auch in der EU. In der NATO noch viel stärker. Die Ukraine-Krise hat einen gewissen gamechanger gebracht. Es gab die Idee des Bündnisses während und das Krisenmanagements nach Ende des Kalten Krieges. Durch die Ukraine-Krise haben jene die Oberhand bekommen, die die NATO wieder zu einem klassischen Militärbündnis und auch die EU zu einem Militärbündnis machen wollen. Wenn sich das durchsetzen würde, dass Krisenmangement mit Militärbündnisaufgaben verknüpft wird, dann wird der Spielraum von Neutralen kleiner. Aber das Konzept der Partnerschaft ist für die NATO nach wie vor notwendig um globaler agieren zu können. Insofern schaut es noch gut aus für die Neutralen, dass sie ihren Spielraum nützen können. Die russische Intervention auf der Krim und in der Ost-Ukraine hat dem Sicherheitskonzept, das sich nach dem Kalten Krieg entwickelt hat, schon sehr geschadet. Aber es ist nicht so, dass alles, was aufgebaut worden ist, verschwindet.
"Einmischen wo möglich und Heraushalten wo notwendig"
Österreich hat das Konzept der engagierten Neutralität entwickelt, das ist das Gegenteil von sich ständig heraushalten. Die Idee dahinter: Neutralität heißt nicht heraushalten wo möglich und einmischen wenn notwendig, sondern umgekehrt einmischen wo möglich und heraushalten nur wo notwendig. Und das knüpft an die Idee der aktiven Neutralität an. Aktive Neutralität war wichtig während des Kalten Krieges, engagierte Neutralität betont das Engagement Österreichs in internationalen Friedensoperationen.
Und zwei Punkte möchte ich noch erwähnen, die sehr wichtig sind: Österreich als neutraler Staat ist gleichzeitig ein Nicht-Nuklearwaffen-Land und Österreich ist da sehr aktiv und hat global wirksame Akzente gesetzt. Den Humanitarian Pledge (Anm.: Wiener Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Kernwaffen) haben rund 130 Staaten unterzeichnet – das geht in Richtung Ächtung von Nuklearwaffen und kein NATO-Staat und kein Nuklearwaffen-Staat könnte diese Initiative ergreifen. Da hat Österreich eine besondere Rolle.
"Vorteile, wenn wir einem Militärbündnis beitreten, hätten wir sehr wenige"
Und das zweite ist natürlich die internationale Diplomatie. Neutrale Staaten sind nach wie vor wichtig. Ich glaube, der Iran hätte niemals akzeptiert, ein Abkommen in einem mit den USA verbündeten Staat abzuschließen. Österreich war mit der Diplomatie geschickt genug, das Wiener Abkommen in Wien abzuschließen. Aber das ist auch nur denkbar gewesen, weil Österreich sich als neutraler Staat über Jahrzehnte im Iran einen guten Ruf erworben hat. Das weiß man nur nicht. Deswegen hat der Iran das akzeptiert, gleichzeitig haben wir die IAEO da. Das sind Vorteile, die Österreich ohne Neutralität nicht mehr hätte. Vorteile, wenn wir einem Militärbündnis beitreten, hätten wir sehr wenige.
Dank seiner Neutralität war Österreich immer wieder Treffpunkt zwischen Ost und West, z.B. Kennedy und Chruschtschow, Carter und Breschnew. Wann und in welchen Situationen hat sich die Neutralität noch bewährt?
Das allerjüngste Beispiel ist das Wiener Abkommen (Anm.: Atomabkommen USA-Iran), das kann man nicht genug schätzen. Das wird langfristig eine ähnliche Bedeutung bekommen wie der Helsinki-Prozess. Ich glaube, dass das noch ein Modell sein wird für Verhandlungen mit anderen Mitgliedern des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der größte Erfolg der österreichischen Diplomatie in der Zeit nach dem Kalten Krieg gewesen. Es haben sich auch zunehmend internationale Organisationen hier angesiedelt und bei den friedenserhaltenden Operationen ist tatsächlich Österreich - im Verhältnis zur Bevölkerung - führend.
"Natürlich gehören auch die Personen dazu, um diese Nischen auszunutzen"
Während des Kalten Krieges war sicherlich der KSZE-Prozess, die Vermittlerrolle der neutralen, paktfreien entscheidend und Wien ist jetzt Sitz der Nachfolge-Organisation, des Sekretariats der OSZE, was nur ein neutraler Staat machen konnte. Und während des Kalten Krieges das Einstehen für die Entspannungspolitik, hier haben die Neutralen Unterstützungsleistung geliefert. Und in allen Fragen der Abrüstung ist Österreich mit ein Vorreiter – das betrifft Nuklearwaffen, Streumunition, Landminen. Ich glaube auch, dass Bruno Kreiskys Nahost-Politik nur möglich war, weil er aus einem neutralen Staat kam. Das war für Bündnisstaaten völlig undenkbar. Natürlich gehören auch die Personen dazu, um diese Nischen auszunutzen. Es gibt auch bei uns noch das andere Konzept, dass Neutralität heißt, sich zurückzuziehen und sich nirgendwo einzumischen. Das ist das Gegenkonzept zur engagierten Neutralität. Und das hängt dann von den Personen und den Regierungen ab. Die Schweiz ist eben "wickelwackel", sie weiß um ihren Vorteil und sie nutzt ihren Multilateralismus genauso aus wie Österreich. Anderseits ist sie sehr vorsichtig mit Friedensoperationen, hier das Heraushalten stärker als in Österreich.
Die Frage von Souveränität und Einmischung ist auch ein ethische Frage, die in jedem Staat diskutiert werden muss und Österreich hat da klarere Voraussetzungen als z.B. Deutschland - beispielsweise im Libyen-Konflikt. Österreich kann da autonomer entscheiden.
Sollte sich die EU tatsächlich in eine Verteidigungsunion entwickeln, was würde das für Österreich bedeuten?
Im Moment gibt’s einen Artikel im Lissaboner Vertrag, der totes Recht ist, aber es gibt den Artikel 42.7, der ein Verteidigungsbündnis vorsieht. Aber da haben sich alle neutralen und bündnisfreien Staaten eine Ausnahmeregelung ausgehandelt, die so genannte irische Klausel. Man muss die verfassungsmäßigen Bedingungen der Mitgliedsstaaten berücksichtigen, gleichzeitig haben die NATO-Staaten gesagt, für uns gilt das auch nicht, denn wir haben das ohnehin in der NATO. Im Lissaboner Vertrag gibt es sehr viele andere Artikel für Krisenmanagement, wo es einen großen Spielraum gibt.
Es ist aber so, dass die neuen osteuropäischen Mitglieder darauf drängen, dass der 42.7 in einer Form wieder belebt wird. Es gibt jetzt den Versuch, den zu verknüpfen, was eigentlich unsinnig ist, mit dem Solidaritätsartikel 222, der nicht Teil der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Man versucht, das rhetorisch zu vermischen und die EU in das Verteidigungsbündnis zu drängen. Also das wäre schlecht für Österreich, wenn dieser 42.7 tatsächlich verpflichtend werden würde. Ich bin der Meinung, der müsste fallen gelassen werden – bin mir aber nicht sicher ob sie auf mich hören. Den Osteuropäern ist es gleich, die sind eh in der NATO, die schauen auf sich, auf Russland und den Kalten Krieg und nicht auf die Neutralen. Die EU würde aber einiges verlieren, würde ich sagen. Aber wenn man sich das Mogherini-Papier anschaut, eines der besten außenpolitischen Papiere, das in den letzten Jahren erschienen ist, geht das ohnehin in eine ganz andere Richtung.
Aber so eine Entwicklung wäre schlecht für Österreich, schlecht für die Neutralen und schlecht die EU. Aber wir sind nicht dort, im Moment ist alles kompatibel.
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Im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen kristallisierte sich anno1955 heraus, dass die UdSSR auf den Begriff der Neutralität bestehen würde. So konnten sich auch die österreichischen Regierungsfraktionen auf diesen Begriff einigen. Nach weiteren Verhandlungen und einer Vereinbarung über den Abschluss der Neutralität im sogenannten Moskauer Memorandum, war also im Frühjahr 1955 eine Lösung gefunden, die sowohl die Sowjetunion und die Westalliierten akzeptieren konnten. Der Weg zum Staatsvertrag war somit frei, ohne, dass dieser eine Klausel zur Neutralität enthielt. Den Staatsvertrag unterzeichneten die Außenminister der vier Besatzungsmächte sowie der österreichische Außenminister Leopold Figl am 15. Mai 1955.
Bereits zehn Tage später brachten Abgeordnete aller vier im Parlament vertretenen Parteien einen Antrag zur Erklärung der Neutralität Österreichs ein. Schon in der nächsten Sitzung nahm das Plenum den Entschließungsantrag einstimmig an, in dem es die Regierung zur Vorlage einer entsprechenden Gesetzesvorlage aufforderte. Das Plenum befasste sich damit am 26. Oktober. Dass so viel Zeit vergangen war, begründete Bundeskanzler Julius Raab damit, dass „der letzte Soldat österreichischen Boden verlassen hat, um eindeutig darzutun, dass die Beschlussfassung der legitimen frei gewählten österreichischen Volksvertretung in voller Unabhängigkeit und in voller Freiheit erfolgt.“ Die letzten Truppen der Besatzungsmächte waren erst am Vortag aus Österreich abgezogen. Am Ende beschloss der Nationalrat die Regierungsvorlage gegen die Stimmen des VdU. Am 28. Oktober bestätigte der Bundesrat den Beschluss, am 5. November trat das Gesetz nach der Kundmachung im Bundesgesetzblatt in Kraft.
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