Hat sich Nehammer bei der EU-Migration durchgesetzt? Mehr EU-Abschottung ist sicher

Bulgarischer Grenzzaun zur Türkei
Das war ein „Erfolg des Bohrens harter Bretter“, zeigte sich Bundeskanzler Karl Nehammer nach Ende des EU-Sondergipfels Freitagfrüh zufrieden. Mit einer Blockadedrohung war er nach Brüssel angereist, mit seinem Beharren hat er sich durchgesetzt. In der Gipfelschlusserklärung wurden Österreichs Forderungen aufgenommen.
Aber sind diese bahnbrechend? Und wird ihre Umsetzung – unter anderem die Finanzierung von Grenzinfrastruktur durch EU-Mittel – etwas an der Migrationskrise ändern?
Kanzler Nehammer hatte vor einigen Wochen gefordert, dass die EU zwei Milliarden Euro in die Hand nimmt, um Bulgarien beim Bau eines Grenzzauns zu unterstützen. Hat er sich durchgesetzt?
Zu einem gewissen Teil – ja: Brüssel zahlt zwar weiterhin keinen Meter Stacheldraht oder auch nur einen einzigen Mauerstein, aber die EU wird für Teile der Grenzinfrastruktur, also Kameras, Drohnen, Fahrzeuge, IT-Systeme etc. aufkommen. Auch dies wollte die EU-Kommission lange Zeit nicht zulassen. Hier aber hat sie nachgegeben. Dadurch werden in Bulgariens nationalem Budget Mittel frei – die wiederum für die Errichtung eines Grenzwalls genützt werden können.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) beim EU-Sondergipfel zur Migration in Brüssel
Rund 11.000 Personen, deren Asylansuchen abgelehnt wurden, hat Österreich im Vorjahr zurückgeführt. Etwa 60 Prozent gingen freiwillig zurück
Abkommen
Die EU hat mit 18 Ländern Rückführungsabkommen, Österreich zusätzlich mit Bosnien/Herzegowina, Kosovo, Liechtenstein, Montenegro, Nigeria, Nord Mazedonien, Serbien, Schweiz und Tunesien
21 Prozent
betrug die Rückführungsquote im Schnitt der 27 EU-Länder. Angepeilt waren – vor Corona – 70 Prozent. Österreich liegt mit 40 bis 50 Prozent über dem Schnitt
Gibt es also erstmals EU-Geld für effizientere Überwachung der europäischen Außengrenzen?
Nein, denn schon im Sieben-Jahres-Haushalt der EU (2021–27) wurden 6,5 Milliarden Euro für die Unterstützung der Grenzinfrastruktur budgetiert. Drei Milliarden davon sind schon verplant. Die Mittel können nun aber „substantiell“ erhöht werden, nicht zuletzt auf den massiven Druck Österreichs und der Niederlande hin.
Wenn es das Ziel ist, die illegalen Ankünfte an den EU-Außengrenzen einzudämmen, reicht dann mehr Geld für Grenzinfrastruktur?
Stärkerer Schutz der EU-Außengrenzen ist nur ein Baustein im großen Feld der Migrationspolitik. Aber er ist ein wichtiger: Mehr Unterstützung sollen nun alle Staaten mit EU-Außengrenzen erhalten. Mehr Beamte der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX werden entsendet, deren Kompetenzen wurden zudem erweitert.Die libysche Küstenwache, die verhindern soll, dass Migrantenboote in See stechen, erhält von der EU weitere fünf Patrouillenboote.
145.000 Migranten und Flüchtlinge kamen im Vorjahr über die Balkanroute in der EU an – mehr als doppelt so viele wie 2021. Wird der Anstieg anhalten?
Ein Grund für die hohen Migrantenzahlen fällt zumindest weg: Serbien hat seine Visafreiheit für Bürger aus Indien und Tunesien beendet, Tausende von ihnen hatten dann in Österreich um Asyl angesucht. Auf den massiven Druck der EU hin hat Belgrad diese Praxis beendet. Auch Nehammer hatte zusammen mit Ungarns Premier Viktor Orbán den serbischen Präsidenten Aleksandar Vucić ersucht, diese Visafreiheit zu stoppen. Schärfere und effizientere Grenzkontrollen allgemein könnten zudem die Zahl der illegalen Ankünfte verringern – solange nicht neue Krisen in Europas Nachbarschaft aufbrechen.
Worin liegt der größte Erfolg von Kanzler Nehammer bei diesem EU-Gipfel?
Die Tatsache, dass die Europäische Union das Migrationsthema wieder oben auf die Prioritätenliste gesetzt hat. Allein war der österreichische Kanzler damit nicht: Auch der niederländische Premier Rutte hat massiv darauf gedrängt, dass die Migrationsfrage wieder ernst genommen wird. Schweden, das im ersten Halbjahr 2023 die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und Italien machen das Thema ebenfalls zur Priorität.
Fast zwei Drittel aller Asylsuchenden in der EU werden abgewiesen. Aber nur ein Fünftel der Abgewiesenen verlässt die EU wieder. Wird hier nun mehr Druck gemacht?
Beim EU-Gipfel haben sich die Regierungschefs darauf geeinigt, die Visapolitik als Druckmittel einzusetzen, um die Herkunftsländer der Migranten zur Zurücknahme ihrer Bürger zu bewegen. Die EU müsse nun alle relevanten Instrumente, darunter Diplomatie, Entwicklungshilfe, Handel und Visa, als Hebel einsetzen, um die Rückführungen sicherzustellen, heißt es im Gipfelbeschluss.
Das „europäische Asylsystem ist kaputt“, wiederholt der Kanzler immer wieder. Hat sich das geändert?
Nein – denn einige Grundprobleme bestehen nach wie vor: Einige Transitländer wie Griechenland oder Ungarn registrieren die Migranten zu wenig oder fast gar nicht und winken durch. Andere Staaten, darunter Österreich, legen sich gegen die Verteilung der Asylsuchenden in Europa quer. Ein Konsens und damit eine endgültige Lösung für die Migrationsfrage ist vorerst weiter nicht in Sicht.
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