Hans-Peter Martin: "Lauter Aufschrei: Macht was!"

Buchautor Hans-Peter Martin: „Reichtum ist dramatisch unfair verteilt“
Neues Buch. Hans-Peter Martin über die Fehler des Establishments und seine Vorstellungen einer Lösung

„Game Over“ heißt Ihr neues Buch – das heißt: Alles vorbei, aus, wir brauchen gar nicht mehr reden. Herr Martin, danke für das Gespräch.

Hans-Peter Martin: Nein, wohl eher das Gegenteil. „Game over“ gilt für das „Weiter-so“. Wir befinden uns mitten in einer Global-Revolution, die vielen noch gar nicht bewusst ist. Die unhaltbare wirtschaftliche Ungleichheit, die unbelohnte Produktivität im Arbeitsleben, die Robotik, der Klimawandel sind nicht Probleme, die uns bevorstehen: Wir stecken mittendrin. Die Wohnungen sind schon unbezahlbar, die Neonationalen sind in vielen Ländern an der Macht, und den Trumpismus, auch ohne Donald Trump, gibt es auch schon.

Bei den Wahlen zum Europaparlament im kommenden Mai droht ein Rechtsruck.

Da dürften die Neonationalen von Viktor Orbàn über die AfD bis zur FPÖ sehr stark abschneiden. Außer es gelingt uns Versprengten, ein Narrativ, eine überzeugende Geschichte zu erzählen.

Was für eine Geschichte, und wer sind die „Versprengten“? Die Neonationalisten haben eine Geschichte: „Wir“ gegen „die“! Wir, sagen sie, sind die Guten, an allem Schlechten sind andere schuld. Die „Versprengten“ nenne ich die moderat Konservativen, die Liberalen, die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linken.

Trump, Ihr Buch, andere Autoren – alle arbeiten sich gerade am „System“ ab, das uns eigentlich über Jahrzehnte Wohlstand gebracht hat. Warum?

In den USA und in Europa gab es lange solide Zuwächse für die breite Mittelschicht. Der US- Neoliberalismus und zu viele neoliberale Positionierungen der Sozialdemokratie mündeten in eine Stagnation. In der Hyperglobalisierung wurde der Reichtum gefährlich unfair verteilt.

Einspruch: Der Wohlstand hat sich doch bis heute im Mittelstand erhöht.

Nur bedingt. Von 1980 bis 2016 verzeichneten die unteren 50 Prozent der Bevölkerung in Europa lediglich einen Einkommenszuwachs von 26 Prozent, die oberen 50 bis 90 Prozent einen Zuwachs von 34 Prozent, und die obersten zehn Prozent bis zu einer Verdoppelung. In den USA freut sich das oberste 0,1 Prozent über 300 Prozent mehr, in China und Russland über mehr als 25.000 Prozent.

Aber im Schnitt fahren die meisten Menschen häufiger auf Urlaub als früher, haben größere Autos ...

Die Realeinkommen sind in Europa zwar zuletzt gestiegen, die Abgaben und Gebühren jedoch überproportional und die Ausgaben fürs Wohnen erst recht. Und seit der Finanzkrise ab 2008 stiegen die Vermögen der Reichsten explosionsartig.

Was ist schlecht daran, dass einige besonders vermögend sind?

Verhaltensökonomen haben nachgewiesen, dass die Unzufriedenheit steigt, wenn das eigene Einkommen gleich bleibt, während andere immer mehr verdienen. Das wurde politisch unterschätzt und Wähler reagieren, wenn es gleichzeitig heißt: Unsere Schulen sind baufällig, die Renten sind nicht sicher.

Das ist die alte Neiddebatte.

Nein, ökonomischer und politischer Realismus. 40 Prozent der Einkommen von wohlhabenden Menschen landen wieder in Geldanlagen wie Wohnungen oder Wertpapieren statt im Konsum und in der Schaffung sinnvoller neuer Arbeitsplätze. Aber gerade den Rechtsnationalen ist es im politischen Diskurs gelungen, für diese real wachsende Kluft nicht wirtschaftliche Abläufe verantwortlich zu machen, sondern „die Fremden“.

Deshalb müssen alle gleich verdienen? Muss man nicht eher erklären, dass es heute besser geht und die Verlustangst ein subjektives Gefühl ist, anstatt mit dem Finger auf die Bestverdiener zu zeigen?

Nein, weil es real so nicht stimmt. Prekäre Arbeitsverhältnisse und ungewollte Teilzeitarbeit haben enorm zugenommen, die Lebensplanung für junge Leute wurde immer schwieriger, die Möglichkeit zu sparen ist extrem schwierig.

Aber was ist schlecht an reich?

Wenn acht Multimilliardäre so viel Vermögen angehäuft haben wie die Hälfte der Menschheit und sich die wirklich Reichen in Parallelgesellschaften verschanzen, ist das gesamtwirtschaftlich nicht sinnvoll und verschärft gesellschaftliche Spannungen. Es ist mir nicht nachvollziehbar, warum man bis zu einer gewissen Einkommenshöhe dem Steuerzahlen nicht entkommt, die wirklich Reichen sich aber bei der Steuervermeidung unheimlich leicht tun. In Österreich gibt es 8800 Einzelpersonen, die über mehr als neun Millionen Euro verfügen. Die würde ich gerne erreichen ...

Womit? Sie zu mehr Steuern verpflichten, sie zum Mäzenatentum bewegen?

Wenigstens zu Steuerzahlungen, wie sie Gutverdiener auch entrichten. Wirklich Reiche müssen sich wieder in die gesellschaftliche Diskussion einbringen. Warum kann man mit Dietrich Mateschitz und seiner Familie nicht reden, warum verstecken sich die Piëchs und Porsches so? Da geht es auch um das Bekämpfen von Verschwörungstheorien, dass ein paar Wenige angeblich alles steuern.

Das hilft gegen die Neonationalisten?

Wenn man die Aufwendungen für Flüchtlinge in Österreich, Deutschland, Italien anschaut im Vergleich zur Steuerflucht ... – vier Milliarden Euro fallen etwa jährlich an Migrationskosten in Italien an, aber sechs bis acht Milliarden entziehen Steuerflüchtlinge dort. Das macht keiner der Neonationalen zum Thema.

Damit wäre der Zulauf zu den Neonationalisten gestoppt?

Nein, allein damit nicht. Wir als Mitglieder des Establishments, also Politiker, Journalisten, klassische Banker und auch eine salonlinke Blase, haben nachhaltig Fehler gemacht. Jetzt reagieren die Wähler auch auf die Arroganz der offenen Gesellschaft.

Stichwort Demokratiemüdigkeit: Beförderte man die nicht mit extremer Schwarzmalerei?

Im Gegenteil, Probleme muss man benennen. Neu ist eine sehr starke Zustimmung zum starken Mann, gerade bei jüngeren sowie reichen und privilegierten Menschen. Da kehren wir in Zeiten vordemokratischer Zustände zurück: Früher wollten die Reichen, dass das Volk nicht mitredet, nach dem Zweiten Weltkrieg wollten es auch die Wohlhabenden, jetzt wenden sich Reiche und wenig Privilegierte von der Demokratie ab. Das ist eine verhängnisvolle Zangenbewegung.

Was ist die Lösung für all das?

Eine Radikalität aus der politischen Mitte heraus: eine ernsthafte Wiederbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wir müssen glaubwürdig teilen. Wenn wir das nicht schaffen, siegt das chinesische Modell eines kapitalistischen Überwachungskommunismus.

Wer muss teilen?

Fast alle – sozial, ökonomisch, politisch und digital. Wir alle müssen Gelegenheiten nutzen, uns mit Andersdenkenden auszutauschen Falsch ist es, die meisten Wähler der FPÖ oder der Lega in Italien als Rechtsradikale zu verdammen. Deren Unsicherheit und Angst ist noch keine endgültige, die in ein „Weg mit dem System“ mündet. Es ist ein lauter Aufschrei an uns: „Macht was“.

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