Gunter Mayr kennt alle Verhandler von ÖVP, SPÖ, Neos und FPÖ. Warum das EU-Defizitverfahren abgewandt ist, das Ende des Klimabonus keine versteckte Steuererhöhung ist und wann er glücklich war.
Am 20. November 2024 übernimmt er die Agenden von Magnus Brunner. Seither ist der Jurist und Betriebswirt Gunter Mayr Finanzminister, bei den Verhandlungen von ÖVP, SPÖ und Neos wie jenen von FPÖ-ÖVP dabei, um das EU-Defizitverfahren abzuwenden, was gelingt. Mit der kommenden Regierung wird Mayr wieder Sektionschef für Steuerpolitik und Steuerrecht. Davor spricht der 53-Jährige über die blau-türkise Lade und die "breiten Schultern" in Steuerfragen.
KURIER: Sie sind seit 22 Jahren im Ressort, seit November Finanzminister. Seit wann sind die fetten Jahre vorbei, haben wir über unsere Verhältnisse gelebt?
Gunter Mayr: Die letzten Jahre waren von Krisen geprägt, erst der Pandemie, dann dem russischen Angriffskrieg. Zeitgleich sind die Förderungen massiv nach oben geschnellt. Dazwischen hat sich die Konjunktur aber kurzfristig erholt.
Wann war „dazwischen“?
Vor dem Angriffskrieg 2022. Als wir im Herbst 2023 dann das Budget für 2024 erstellt haben, gingen wir noch von einem BIP-Wachstum von 1,2 Prozent aus – diese Konjunkturdaten wirken sich auch auf den Haushalt aus. Zur Veranschaulichung: Ein Prozentpunkt Rückgang im BIP, also weniger Wachstum, entspricht etwa einem halben Prozentpunkt höherem Jahresdefizit.
Tirol & Taekwondo: Der Innsbrucker (Jg. 1972) studiert Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, habilitiert 2003 und wechselt ins Finanzressort. Erst ist er Mitarbeiter der Abteilung „Steuerlegistik und Steuerpolitik“, später Leiter der Abteilung Einkommen- & Körpersteuer, dann der Gruppe „Materielles Steuerrecht“. Von 2012 bis Nov. 2024 ist Mayr Sektionschef für „Steuerpolitik und Steuerrecht“, seit 2009 Professor für Finanzrecht (derzeit karenziert). Mayr ist Vater von zwei Töchtern und mehrfach ausgezeichnet in der koreanischen Kampfkunst Taekwondo
Hätte Ihr Vorgänger Magnus Brunner oder WIFO und IHS „Stopp“ rufen müssen, Österreich wie Deutschland eine Schuldenbremse einführen sollen?
Das WIFO war offenkundig selbst überrascht von der massiven Verschlechterung, wenn man den Juni- mit dem Oktober-Wert 2024 vergleicht – von einem Nullwachstum noch im Juni auf ein Negativwachstum von 0,6 Prozent im Oktober. Da für uns im Finanzministerium die Daten von WIFO als Primärgrundlagen für unsere Prognosen dienen, mussten wir Anfang Oktober 2024 erstmals von einem Defizit von 3,3 Prozent ausgehen.
Sollte Österreich künftig seine Primärgrundlage-Daten überdenken?
Wir sind viele Jahre sehr gut damit gefahren. Die Krisensituationen waren nicht absehbar. Die Konjunkturprognosen werden immer von WIFO und IHS präsentiert, sollte es dabei zu großen Abweichungen kommen, schauen wir uns das auch immer ganz genau an. Vieles war aber nicht absehbar. Das sehen wir auch bei der Umsatzsteuer.
Der vorläufige Bundeshaushalt 2024 zeigt, dass die Umsatzsteuer um 1,4 Milliarden Euro geringer ausgefallen ist als kalkuliert. Umsatz- und Lohneinkommenssteuer sind die zwei größten Steuern mit rund 40 Milliarden Euro Aufkommen. Wenn Sie diese 1,4 Milliarden Euro heranziehen – und zwar mit einem durchschnittlichen Umsatzsteuersatz von 20 Prozent – dann erkennen Sie, dass 7 Milliarden Euro weniger ausgegeben worden sind, weil zu viel Unsicherheit herrscht. Genau deshalb war es jetzt so wichtig, einen Konsolidierungspfad zu erstellen, der für Sicherheit sorgen kann.
Sie kennen die Pläne von ÖVP, SPÖ und Neos und jene von FPÖ und ÖVP. Nun scheinen die Dreier-Verhandler die blau-türkisen Pläne 1:1 übernommen zu haben, um 6,39 Milliarden heuer und über 8,4 Milliarden Euro nächstes Jahr einzusparen. Ist ein Doppelbudget besser als ein einjähriges Budget?
Das ist unabhängig voneinander zu sehen. Vereinfacht gesagt: Über 60 Prozent Schulden oder über 3 Prozent Defizit sollte man als Staat nicht haben, aber 17 EU-Mitgliedsstaaten entsprechen diesen Kriterien nicht. Erfüllt man ein Kriterium nicht, dann schreibt die EU einen Pfad vor. Wir müssen uns nun wieder an die Fiskalregeln halten, die während Corona ausgesetzt waren. Mitte Dezember haben wir das Berechnungstool der EU-Kommission erhalten und dargestellt, was in den kommenden sieben Jahren wie eingespart werden soll.
Das heißt: FPÖ und ÖVP haben auch das Budget für das zweite Jahr, also 2026, in der Lade?
Natürlich wurde auch das durchgerechnet, denn das Folgebudget ist Ausfluss des vorhergehenden Budgets. Für das Defizitverfahren entscheidend ist jetzt, ob wir heuer unter 3 Prozent kommen.
Eingespart werden soll unter anderem der Klimabonus. Die Grünen sagen, das ist eine „Steuererhöhung durch die Hintertür“. Sie als Steuerexperte gefragt: Stimmt das?
Von den 6,39 Milliarden Euro, die wir nach Brüssel eingemeldet haben, entfällt rund die Hälfte auf Förderungen. Der Klimabonus ist eine knapp zwei Milliarden Euro hohe Förderung. Wir sind verglichen mit dem EU-Schnitt um gut drei Milliarden höher als andere EU-Länder. Es war daher eine gute Argumentation für uns zu sagen, wir bringen Österreich durch die Fördereinsparung auf EU-Schnitt.
Zurück zum Klimabonus…
… der Klimabonus ist eine direkte Förderung und das Wegfallen einer Förderung ist keine Steuererhöhung.
SPÖ-Chef Andreas Babler sprach stets von „breiten Schultern“ und sich dezidiert für eine vermögensbezogene Steuer aus. Davon ist keine Rede mehr. Nochmals Sie als Steuerexperte gefragt: Sind Steuern eine Frage der Ideologie, bringen vermögensbezogene Steuern den von Babler gewünschten Effekt?
Als ich ins Amt kam, da war die vorrangige Aufgabe, ein Defizitverfahren zu vermeiden. In der Analyse haben wir festgestellt, dass unser Fokus ausgabenseitig sein muss, denn wir haben in Österreich mit 43,7 Prozent bereits eine sehr hohe Abgabenquote. Also: Wenn man das Budget sanieren möchte, dann sollte man das ausgabenseitig tun. Hinsichtlich der Steuern, die Sie ansprechen: Wir unterscheiden Ertrags- und Substanzsteuern. Wenn Sie eine Immobilie veräußern, dann machen Sie einen Gewinn und werden mit 30 Prozent Immobilienertragssteuer besteuert. Eine Substanzsteuer wie eine Vermögenssteuer funktioniert anders.
Nämlich?
Ohne, dass sich in der Substanz etwas verändert– bleiben wir bei dem Beispiel der Immobilie – wird diese einer Besteuerung unterzogen. Das ist administrativ aufwendig und mit Kosten verbunden, weil die Vermögenswerte an sich zuerst einmal bewertet werden müssten. Das steuertechnisch größere Problem: Aus der Substanz fließt kein Ertrag. Deshalb sehe ich Substanzsteuern kritisch.
Die „breiten Schultern“ sind also nicht die Vermögenden, sondern?
Wenn wir uns die Lohneinkommenssteuer ansehen, dann sehen wir, dass Arbeitnehmer in Österreich bis 19.600 Euro überhaupt keine Lohn- und Einkommenssteuer bezahlen. Betrachtet man das gesamte Lohneinkommenssteueraufkommen, dann sehen wir, dass 38 Prozent der Einkommensbezieher keine Steuern zahlen. Die Top 10 Prozent der Einkommensbezieher leisten fast 60 Prozent des Steueraufkommens. Man sieht also, dass die, die in Österreich ein höheres Einkommen beziehen, den Großteil des Steueraufkommens leisten.
Sagen Sie gerade, dass sich unser Steuersystem ändern muss?
Wir müssen jetzt das Budget konsolidieren und unter die 3 Prozent kommen. Wenn man sich die Steuertarife ansieht, dann wäre es wohl ratsam mehr abzufedern als höhere Steuern vorzunehmen. Wer statt 36.000 Euro auf einmal 37.000 Euro verdient, springt in die nächste Progressionsstufe von 40 Prozent. Es wäre schön, wenn in diesem Bereich irgendwann Entlastungen vorgenommen werden.
Der Sparstift wurde von jeder Koalitionskonstellation bei Klimaförderungen wie dem Heizkesseltausch angesetzt. Dabei könnten diese Förderungen doch die Konjunktur stimulieren.
Der angesprochene Heizkesseltausch wurde vom Bund mit bis zu 75 Prozent gefördert.
Ich bin niemandem etwas neidig. Nur müssen Sie überlegen: Woher kommen die Förderungen? Das sind Steuerleistungen. Experten der Branche sagen uns im Finanzministerium, dass die Preise für Wärmepumpen und andere Heizsysteme seit der Förderung teurer wurden und es im Ausland billigere Alternativen gibt. Es gibt also durchaus negative Auswirkungen dieser Förderung.
Am Mittwoch findet die nächste Nationalratssitzung statt. Beschlossen werden könnte, dass das automatische Budgetprovisorium zu einem gesetzlichen wird. Glauben Sie daran?
Wir sind haushaltsrechtlich in einer Sondersituation, da wegen der Wahl kein Budget erstellt worden ist. Seit 1.1.2025 gilt deshalb ein automatisches Budgetprovisorium. Es gibt nur eine größere Herausforderung: Die Bundesverfassung sieht unter anderem vor, dass Finanzschulden nur bis zur Hälfte des Wertes des Vorjahres aufgenommen werden dürfen. Diese vom Staat aufgenommenen Anleihen und Darlehen haben fixe Tilgungszeitpunkte. Das sind bis in den Sommer der 20.2., der 20.4. und der 20.7.
Wir haben 2024 Finanzschulden von 74,4 Milliarden Euro aufgenommen, daher dürfen wir im Rahmen des automatischen Budgetprovisoriums die Hälfte, also 37,2 Milliarden, verausgaben. Die April-Tilgung sieht 11 Milliarden Euro vor und ist gesichert durch das automatische Budgetprovisorium. Aber dann, ab Ende April…
… sind wir zahlungsunfähig?
Nein, selbst wenn es knapp werden würde: Wir sind handlungsfähig und zahlungsfähig. Wir können immer kurzfristig Finanzierungen aufnehmen, doch das wäre schlecht für unsere Reputation.
Ja, aber davon ist nun nicht auszugehen. Jetzt wäre es wichtig, ein gesetzliches Budgetprovisorium einzubringen. Damit wäre sichergestellt, dass die Finanzierungen fortlaufen. Selbst wenn es am Mittwoch in der Nationalratssitzung nicht gelingen sollte, so könnte man parlamentarische Sondersitzungen einberufen.
Sie haben den Vergleich von allen drei Verhandlerteams und Phasen. Wer war konstruktiver?
Das schnelle Finden der 6,39 Milliarden in drei Tagen war natürlich auch dem geschuldet, dass wir im Finanzministerium vorgearbeitet hatten in der Dreier-Konstellation. Darauf aufbauend gab es eine gute Grundlage für die aktuellen Verhandler.
Sehr diplomatische Antwort. Innerhalb von vier Monaten haben Sie sich einen sehr guten Ruf quer über alle Parteien erarbeitet. Könnten Sie sich vorstellen, in der ersten Reihe zu bleiben, wenn auch nicht als Finanzminister?
Ich war als Finanzminister vom ersten Tag an mit den derzeit größten Themen befasst. Das war sehr intensiv, aber auch von vielen bereichernden Momenten geprägt – etwa durch den Austausch mit der EU-Kommission und meinen Finanzministerkollegen im Rahmen des ECOFIN-Rats. Aber: Ich war davor Steuersektionschef und Professor am Juridicum und werde beides gerne wieder machen.
Sollte man Sie fragen und eine Stelle vakant werden?
Ich war davor glücklich – und den Rest müsste man sich ansehen.
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