Gesundheitsökonom Pichlbauer: "Unsere Kinder sind gar nicht so dick"

Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer
Der in Österreich jetzt schon gigantische Anteil der privaten Gesundheitsversorgung werde wegen fehlender Reformen noch weiter ansteigen, warnt Gesundheitsexperte Pichlbauer.

Die Regierung feiert sich für den Ausbau der Primärversorgungseinheiten und der Gesundheitshotline 1450. Laut dem Gesundheitsökonomen Ernest Pichlbauer werde das aber bei weitem nicht reichen, um den erwartbaren massiven Anstieg chronisch Kranker zu begegnen, wie er im KURIER-Polit-Podcast "Milchbar" warnt. 

Was bringt die von der Regierung geplante Ausweitung und bundesweite Vereinheitlichung der Gesundheitshotline 1450?

In Niederösterreich hat man derzeit bei 1450 8.000 bis vielleicht 10.000 Anrufe pro Tag. Und das ist schon die Ausbaustufe. Das ist nichts. Um tatsächlich in die Steuerung der Patientenströme einzugreifen, müsste man mit 300 Millionen Anrufen pro Jahr rechnen. Sehen Sie irgendwo eine Skalierung in dieser Größenordnung? Nein, wir haben neun Callcenter, in denen jeder neue Mitarbeiter gefeiert wird. Ich sehe aber keinerlei Ausbaupläne, kein Budget für die nötigen tausenden geschulten Mitarbeiter. Es geht nur um die Schlagzeile. Das Thema wird einfach als Show weitergeführt. Ähnlich ist es mit den Community Nurses, von denen es in einer Pilotphase mit Hilfe von EU-Geldern 242 gibt. Benötigen würden wir aber 4.000 bis 8.000. Anstatt das zu diskutieren, lässt man das Projekt einfach wieder einschlafen.

Die ÖGK muss sparen und führt jetzt Selbstbehalte bei den Patiententransporten ein. Eine sinnvolle Maßnahme?

Das ist wieder typisch: Dort, wo am meisten zu holen ist, greift man ein. Mit dem Argument, dass die Zahl der Transporte um 70 Prozent gestiegen ist. Aber niemand fragt nach, ob diese Patienten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle landen oder ob es vielleicht früher eine Unterversorgung gab. Wird auf diese Weise gespart, wird der Wahlarzt-Sektor und die Zahl der Patienten, die eine Privatversorgung abschließen, nur noch größer. Dabei liegen wir hier im internationalen Vergleich schon gigantisch hoch. Wir haben doppelt so viele Privat- und Zusatzversicherte wie in Großbritannien, wo die Menschen um 20 Prozent weniger Steuern zahlen.

Die Regierung rühmt sich damit, die niedergelassene Versorgung mit dem Ausbau der Primärversorgungseinheiten (PVE) verbessert zu haben. Hat sie damit recht?

Sie wurden seitens der Ärztekammer in ihrer jetzigen Form durchgesetzt – als Team, das rund um den Arzt arbeitet. Die ursprüngliche Idee war allerdings die „Primary Health Care“: Ein Team, das rund um den Patienten arbeitet und möglichst niederschwellig die gesundheitlichen Probleme vor Ort adressiert. Nehmen wir etwa ein Viertel, wo viele Menschen mit Drogenproblemen leben. Brauchen wir dort eine PVE, in dem wie vorgesehen diplomierte Pflegepersonen arbeiten? Nein. Vielmehr brauchen wir dort Streetworker und Sozialarbeiter. Können wir sie im PVE statt einer Krankenschwester einstellen? Nein.

Sind die PVE nicht dennoch ein Fortschritt gegenüber früher?

Das reicht mir nicht, weil wir jetzt in eine demografische Entwicklung hineintauchen, die absurd sein wird. Schon die zweijährige Baby-Boom-Phase der NS-Zeit hat unser System bereits total an die Grenzen gebracht. Jetzt werden aber jene Menschen alt, die in dem zehn- bis fünfzehnjährigen Babyboom der Nachkriegszeit zur Welt kamen. 

Um sich darauf vorzubereiten, müssten wir schon viel weiter sein. Ich bin so frustriert, weil ich schon in einem Buch vor 20 Jahren appelliert habe: Denkt an die 2020er-Jahre, bis dahin müssen wir fit für die Versorgung der vielen chronisch Kranken sein. In zwei Jahren, also 2027, wird es zu einem riesigen Anstieg der Inanspruchnahme kommen.

Aber was wird dann genau passieren?

Die Patienten werden auf den Wahlarzt ausweichen. Damit wird es zu einer weiteren Desolidarisierung kommen.

Gerne wird betont, man müsse so früh wie möglich ansetzen, etwa in Form zusätzlicher Turnstunden bei den Kindern. Ist das wirklich notwendig?

Was gerne übersehen wird: Im europäischen Vergleich bewegen sich unsere Kinder sehr viel. Das verdanken wir den Sportvereinen. Laut Statistik sind sie im Europa-Vergleich auch gar nicht so dick. Dass Adipositas bei Kindern zunimmt, ist eine sehr unangenehme Sache, aber es ist nicht so schlimm, wie es gerne dargestellt wird. Wir kriegen aber oft nicht hin, dass jemand, der mit 18 dünn zur Stellung kommt, auch mit 25 immer noch dünn ist. 

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