Experte zum Zustand der Demokratien: "Absolute Freiheit ist totalitär"

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Warum die Freiheit des Einzelnen Grenzen haben muss und was Verkehrsregeln damit zu tun haben, erklärt Politologe Reinhard Heinisch.

Der 26. Oktober ist auch Tag der Freiheit. Österreich feiert seit 1955 seine Neutralität, die Besatzungsmächte hatten das Land verlassen. Wie steht es heute um die Freiheit in Österreich? Und ist mehr Freiheit immer besser? Ein Gespräch mit Politikwissenschafter Reinhard Heinisch von der Uni Salzburg.

KURIER: Wie hat sich das Verständnis von Freiheit seit 1955 verändert?

Reinhard Heinisch: Früher ging es um die Freiheit gegenüber dem Staat – also darf man Parteien bilden, gibt es eine freie Presse, kann man sich versammeln? Die Gesellschaft wurde als Kollektiv betrachtet. Heute ist Freiheit individuelle Autonomie. Also dass ich machen kann, was ich will und mir nichts vorschreiben lassen muss. Die Idee, Opfer für die Demokratie zu bringen, verschwindet zunehmend.

Welche Opfer zum Beispiel? 

Die Demokratie zu verteidigen, auch mit der Waffe. Deshalb haben wir in Deutschland gerade die Diskussion zur Wehrpflicht. Dieses Freiheitsverständnis wird auch von Politikern angetrieben, die uns suggerieren, der Mensch sei aus seinem Bauchgefühl heraus Experte für alles. Tatsächlich aber ist unser Leben nur möglich, weil es im Hintergrund einen funktionierenden Staat gibt.

Der Stellenwert individueller Freiheit ist nach der Corona-Pandemie noch gestiegen.

In Österreich ist man sehr salopp mit den Freiheitsrechten umgegangen. Die Verantwortlichen hätten signalisieren müssen, wie schwer ihnen dieser Eingriff fällt. Dass es eine notwendige, wenn auch schlechte Option ist. Stattdessen geschah vieles mit Augenzwinkern.

Wo endet die Freiheit des Einzelnen in einer demokratischen Gesellschaft?

Die Freiheit des Einzelnen ist immer durch die Freiheit des anderen begrenzt. Ein absoluter Freiheitsbegriff ist letztlich totalitär. Die moderne Demokratie ist auf einer Reihe von Gesellschaftsverträgen aufgebaut, wo jeder Verpflichtungen einzugehen hat. Das fängt bei den Steuern an, über den Wehrdienst, bis zu den Verkehrsregeln. Erst vergangene Woche hat sich der Verfassungsgerichtshof mit der Frage beschäftigt, ob Frauen die Freiheit haben, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Wir sehen also eine Ausweitung der Freiheitsrechte über die Jahre hinweg.

Gleichzeitig gibt es auch Rückschritte, etwa bei der sexuellen Freiheit in Ungarn.

Ja, eine Ausweitung der Freiheiten führt immer dazu, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen bedroht fühlen und diese Rechte wieder einschränken wollen. Diese Parallelität sieht man sowohl in Europa, als auch in Übersee. Männer, die sich von der Freiheit der Frauen bedroht fühlen, oder traditionelle, religiöse Gruppen von LGBTIQ-Rechten.

Diese Parallelität, wie Sie es nennen, ist letztlich nichts anderes als die Polarisierung der Gesellschaft, die wir gerade erleben. Gibt es einen Ausweg daraus?

Manche sagen, die Polarisierung ist nur eine Übergangsphase und die sind immer chaotisch. Andere meinen, es gibt Kipppunkte in Gesellschaften. Wenn sie erreicht sind, findet eine Gegenrevolution statt und autoritäre Systeme übernehmen. Sicher ist nur, dass wir Freiheit nicht als gegeben annehmen dürfen. Sogar noch viel weniger als vor 20 oder 30 Jahren. An früheren Nationalfeiertagen konnte man davon ausgehen, dass die Zäsur in der Vergangenheit liegt. Das ist heute nicht mehr so.

Würden Sie sagen, dass die Freiheit in Gefahr ist?

Definitiv. Anfang der 2000er-Jahre haben die Demokratien ihren Höhepunkt erreicht. In den 2010er-Jahren gab es Wellen von Erosionen, dann noch einmal zur Covid-Zeit. Es sind keine Generäle, die mit Panzern die Macht übernehmen. Sondern es sind gewählte Politiker, die das System von innen heraus in Richtung Autokratie umwandeln. Das ist mittlerweile das häufigste System weltweit: diese Wahl-Autokratien oder hybride Demokratien. Das kann man in Ungarn und in den USA gut beobachten.

Apropos USA: Im „Land of the free“ werden derzeit viele Freiheitsrechte beschnitten. Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem so schnell?

Die amerikanische Demokratie leidet darunter, dass sie nie eine Zäsur hatte und deshalb Dinge mitschleppt, die nicht mehr zeitgemäß sind. Zum Beispiel ist völlig unklar, wo die Grenze der Macht des Präsidenten ist. Er kann ein gewählter König sein oder ein Premierminister. In Europa hingegen hat man nach dem Zweiten Weltkrieg Verfassungen gezimmert, die mitbedenken, was alles sein kann. Dadurch sind sie wehrhafter. Und das ist auch der Grund, warum der erste Schritt vieler Machthaber ist, die Verfassung zu ändern.

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