Schon erwartet
Überraschend ist das alles für den Soziologen nicht. Güngör, der seit vielen Jahren vor allem in Österreich tätig ist, gilt als harter Kritiker der Regierung in Ankara und von Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich. Und unter Erdoğan fährt die türkische Regierung vor allem in jüngerer Vergangenheit einen sehr harten Kurs gegen Kritiker. In den letzten sechs Jahren wurden wegen „Beleidigung des Präsidenten“ Verfahren gegen 160.000 Personen eröffnet. Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Im Vorjahr belegte sie Platz 153 von 180 in der globalen Rangliste der Pressefreiheit.
„Es war nur eine Frage der Zeit, dass ich wegen dem, was ich zu den hegemonialen, antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei und dem Erdoğan-Regime sage und schreibe, mit zwei Haftbefehlen ‚geadelt‘ werde“, so Güngör.
Auch habe er in den vergangenen Jahren schon den einen oder anderen Hinweis bekommen. Der Soziologe erwähnt im Gespräch etwa Interventionen der türkischen Seite auch bei österreichischen Politkern. „Vor mir wurde gewarnt, ich sei ein Staatsfeind“, sagt Güngör.
Auf KURIER-Anfrage bei der türkischen Botschaft heißt es zu Güngörs Fall nur: „Laut Artikel 9 der türkischen Verfassung wird die Rechtsprechung im Namen des türkischen Volkes von unabhängigen und unparteiischen Gerichten ausgeübt. Gegenwärtig kann zu diesem Thema keine Erklärung abgegeben werden.“
Kein Einzelfall
Kenan Güngör sieht sich selbst nicht als Opfer dieses „Unrechtsregimes“. Er betrachtet es als „den Preis, den Mann oder Frau bereit ist, für seine Überzeugung zu zahlen“. Er will trotzdem an seiner offenen Kritik an Erdoğan festhalten. Erst das Schweigen würde ihn zum Opfer machen.
In der Öffentlichmachung der Haftbefehle gehe es ihm zudem nicht um die Aufmerksamkeit oder seine Person, sondern darum, auf das allgemeine Problem aufmerksam zu machen. „Ich bin nicht der Einzige, dem es so ergeht. Viele trifft es noch schlimmer“, betont Güngör.Das, was derzeit passiert, sei ein „grundrechtspolitscher Skandal sondergleichen“. Güngör, der deutscher Staatsbürger ist, sieht hier auch ein Versagen Europas, seine Bürger und ihre Grundrechte zu schützen.
Er kritisiert auch, dass sich Österreich in letzter Zeit der Türkei wieder angenähert habe. Erst kürzlich besuchten Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) und der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) den türkischen Staatspräsidenten. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) traf Erdoğan beim NATO-Gipfel in Madrid.„Es erweckt den Eindruck einer vermeintlichen Normalisierung der Türkei. Auf türkischer Seite hat sich aber nichts verändert“, so Güngör.
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