Der "Anschluss" 1938: Ein "politisches Multi-Organversagen"

Kanzler Kurz Präsident Van der Bellen (und seine Frau Doris Schmidauer
Das offizielle Österreich gedenkt – und warnt: Die Demokratie muss verteidigt werden.

Man sieht ihn vor sich, den Industriellen im Schlafrock. Er heißt Stephan Heller, und im Vorraum seines Herrenhauses fährt er die Uniformierten, die seine Haushälterin niedergestoßen haben, an: "Was erlauben Sie sich?".

"Alles!", antworten die. "Ab heute dürfen wir alles!"

Die Nazischergen nehmen Heller mit, und während Wien an diesem März-Tag ’38 im fiebrigen Wahn den "Anschluss" feiert, kniet Heller vor dem Wiener Theresianum und putzt zum Gaudium des Mobs die Straße. Mit einer Zahnbürste.

Der "Anschluss" 1938: Ein "politisches Multi-Organversagen"
Gedenkakt zum 80. Jahrestag des 12. März 1938 in der Wiener Hofburg mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Wien, am 12.03.2018.

Am Montag gedachte das offizielle Österreich – von der Regierung über den Bundespräsidenten bis hin zu den Landeshauptleuten und der Zivilgesellschaft – dem 80. Jahrestag des Anschlusses. Und Stephan Hellers Sohn André hielt die Festrede und berichtete dabei, wie es seinem Vater in den frühen Morgenstunden des so genannten Anschlusses ergangen ist.

Ihm wie auch Kanzler Sebastian Kurz und Staatsoberhaupt Alexander Van der Bellen geht es vor allem um eine Botschaft: Österreich war nicht Opfer.

"Österreich hat Mitverantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus", sagt Van der Bellen.

So sei zwar die Wehrmacht über Nacht gekommen. "Nicht über Nacht kamen die Verachtung für die Demokratie, der Militarismus, Intoleranz und Gewalt. Sie hatten sich schleichend in Österreich eingenistet."

Und erst weil es eine"kontinuierliche Aushöhlung von Humanismus und Rechtsstaatlichkeit", also ein "politisches und gesellschaftliches Multi-Organversagen" gegeben habe, sei die Katastrophe möglich geworden. Die Demokratie, so ist der beunruhigende Schluss an diesem Vormittag, ist nie sicher, muss immer verteidigt werden.

Und umgemünzt auf das Jahr 2018 gibt die Geschichte viele Lehren, sagt das Staatsoberhaupt: "Die Lehre, dass auch Demokratien anfällig für Populismus und Demagogie sind. Dass Diskriminierung ein erster Schritt zu Entmenschlichung ist. Dass Rassismus und Antisemitismus nicht einfach verschwinden,sondern heute im Kleinen wie im Großen weiter existieren. Und die Lehre schließlich, dass es wichtig ist, rechtzeitig die Stimme zu erheben und gegen jede menschenverachtende Ideologie aufzustehen." Oder, wie es Kanzler Kurz sagt: "Jeder Mensch trägt nicht nur Verantwortung dafür, was er tut, sondern vor allem dafür, was er nicht tut."

"Die es nicht erlebt haben, können es nicht verstehen", sagt Rudolf Gelbard; bei dem Satz wird seine Stimme leise.

80 Jahre.

So viel Zeit ist vergangen, seit diesem Tag im März, als "bei uns im Wohnzimmer alle zu weinen begonnen haben", weil draußen auf der Straße, im zweiten Bezirk, wie auf einen Schlag alle Juden aus ihren Häusern gejagt wurden. "Die Straßen putzen mussten sie, mit Zahnbürsten", sagt Gelbard, "und die Rabbis haben sie gezwungen, Turnübungen zu machen."

Vom Jubeln und Treten

80 Jahre, so viele Jahre liegen auch zwischen dem grauhaarigen Mann und seinen Zuhörern, einer Gruppe Schüler vom Wiener BG 19. Als er, heute 87, immer lauter wird und vom "Anschluss" erzählt, von den Tagen, als nach oben gejubelt und nach unten getreten wurde, wird es immer stiller hier im Bildungsministerium, wo sie auf Einladung von Minister Heinz Faßmann zum Zeitzeugengespräch sitzen. Wie man dieses Grauen aushält, noch dazu, wenn man Kind ist?

Indem man davon erzählt, immer und immer wieder; seit Jahrzehnten macht Gelbard nichts anderes. Er ist einer der Letzten, die das können: Acht Jahre war er, als Österreich aufhörte zu existieren; und als er 1945 dem Lager Theresienstadt entkam, wo die Nazis fast seine ganze Familie ermordeten, war er 15 Jahre alt.

Gleich alt wie viele der Gymnasiasten hier. "Wie war es dort?", will einer wissen.

Gelbard schaut schief. "Sie sind gut angezogen, gehen in gute Schulen, haben alle Chancen. Wir hatten das nicht. Wir hatten kein Spielzeug, keine Tiere. Nur Hunger. Und Todesangst."

Das sitzt.

Gelbards Taktik ist, so könnte man sagen, die schonungslose Konfrontation. Und der Blick ins Heute: "Ich greife jetzt das Mädchen mit dem Kopftuch heraus", sagt er und deutet auf Asmaa, 16, in der ersten Reihe. "Wenn sie beleidigt wird, wenn ihr mit Vorurteilen begegnet wird, dann müssen Sie aufstehen und dagegen auftreten", sagt er laut. "Haben Sie Mut, auch im kleinen Kreis!"

"Mutig sein!"

Die Schüler sehen ihn groß an, und Asmaa sagt später, er habe sie sehr beeindruckt. "Mutig sein, egal was das Umfeld will", das nehme sie mit von heute, sagt sie. Das Kopftuch, das habe ihr noch nie Probleme bereitet, sagt sie selbstbewusst. In ihrer Schule hat niemand ein Problem damit.Valentin, 17, nickt. "Wir sind schon sehr sensibel, was diese Themen angeht, aber man muss immer aufpassen", sagt er. Denn wie es damals war, von der Familie getrennt, die harte Arbeit im Lager, "das können wir uns ja nicht vorstellen."

Gelbard wird darum seine Geschichte weiter erzählen, damit die, die nicht dabei waren, zumindest spüren, wie es war. Denn: "Bücher können das nicht vermitteln", sagt er.

Der "Anschluss" 1938: Ein "politisches Multi-Organversagen"
Rudolf Gelbard mit Asmaa (l.) und Laura

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