Vartok ist Brigadier im Bundesheer und Leiter der Direktion Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen. Er verantwortet das sogenannte Risikobild, eine vom Militär erstellte Analyse, die minutiös alle Risken bewertet, die Österreich und seine Bevölkerung gefährden – von Pandemien über Terrorangriffe und Flüchtlingsbewegungen bis zum Klimawandel.
Nicht wenige Warnungen verpuffen. Zum Beispiel die Pandemie: Dass sich Österreich und die Welt für eine flächendeckende Gesundheitskatastrophe rüsten wird müssen, war in Prognosen des Heeres lange vor Covid-19 zu lesen. Umfangreiche Vorbereitungen blieben dennoch aus.
Ein anderes Beispiel: Wladimir Putin. Obwohl russische Truppen 2008 in Georgien waren und Russland 2014 die Krim besetzt hat, ignorierte die politische Öffentlichkeit de facto bis zum Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022, was längst offenkundig ist: Der konventionelle Krieg ist nicht überwunden. Und: Die Zeit, in der sich Staaten fast selbstverständlich an internationales Recht, an Verträge oder Abmachungen gehalten haben, gehört der Vergangenheit an.
„Das Gesetz des Stärkeren feiert eine Renaissance“, sagt Vartok zum KURIER.
China will die „Taiwan-Frage“ bis 2046 lösen, sprich: Taiwan annektieren. Russland plant, einen Landkorridor zu seiner Enklave Kaliningrad zu schaffen. „Der Krieg ist in Europa angekommen.“
Soweit zum eher ernüchternden Istzustand.
Aber was ist in dieser neuen Situation zu tun? Geht es allein darum, hochzurüsten?
Nicht nur, aber auch.
Als Reaktion auf Donald Trumps außenpolitische Ansagen haben die Regierungschefs der Europäischen Union erst diesen Donnerstag einen mit Hunderten Milliarden Euro dotierten Rüstungsfonds vereinbart. „Europa ist aufgewacht“, befundet Außenministerin Beate Meinl-Reisinger am gestrigen Samstag.
Österreich hat sich unabhängig davon schon entschieden, das Wehrbudget aufzustocken: Von derzeit vier Milliarden Euro wird es bis 2033 auf mehr als 6,4 Milliarden anwachsen. Die Budgets werden signifikant hochgefahren.
Doch das macht Europa und Österreich nicht per sei überlebens- oder demokratiefit.
„Wir müssen uns auch anders rüsten“, sagt Analyst Vartok. „Politiker, Medien, die Zivilbevölkerung – sie alle müssen im Sinne einer umfassenden Landesverteidigung an der Widerstandskraft arbeiten.“
Realitätskunde
Ursula Plassnik weiß, wie derartige Ansagen in den Ohren von Generationen klingen müssen, die den Kalten Krieg nur aus Filmen und von Wikipedia kennen.
Die frühere Diplomatin war Anfang der 2000er-Jahre Außenministerin und will jetzt nicht in Panikmache oder Alarmismus verfallen. Vielmehr sei in Österreich etwas „Realitätskunde“ gefragt, wie die frühere Botschafterin in einem bemerkenswert deutlichen Beitrag im trend argumentiert. „Unsere Wirtschaft muss sich umstellen, die Investitionsprioritäten gehören neu geordnet, die verteidigungsrelevante Forschung angekurbelt, Rohstoffe gesichert, Lieferketten überprüft und angepasst.“
Das klingt, als müssten vor allem Regierung und Unternehmen so etwas wie eine moderne Kriegswirtschaft andenken.
Doch tatsächlich geht es um sehr viel mehr.
Es geht darum, dass die Gesellschaft insgesamt eine höhere Widerstandskraft und ein schärferes Bewusstsein entwickelt, was sie an nachgerade selbstverständlich gewordenen Faktoren wie der Rechtsstaatlichkeit hat.
Das beginnt zu einem erheblichen Teil beim Nachwuchs. „Man muss die jungen Generationen in den Schulen darauf hinweisen, welchen Wert die Demokratie darstellt – und wie wir sie verteidigen können“, sagt Analyst Vartok. Dazu gehört der massive Ausbau von Medien- und Demokratie-Kompetenz.
Nur wenn junge Menschen verstehen, wie viel bzw. wenig individuelle Freiheiten in einer Diktatur zählen, werden sie Demokratie schätzen.
Was ist mit jenen Menschen, die die Schulzeit schon lange hinter sich haben?
Sie sollten bei Gelegenheit über die eigene Resilienz und Vorsorge nachdenken.
Am einfachsten geht das mit der Frage: Wie geht’s mir, wenn ein paar Tage das Wasser, der Strom oder das Internet ausfallen? Komme ich da zurecht?
Bei so viel Realismus kann einem leicht die Zuversicht abhandenkommen. Das muss nicht sein, meint Plassnik, denn: „Unsere Voraussetzungen in der EU sind weit besser, als sie von einigen lautstarken Apokalyptikern beschrieben werden.“
Selbstverteidigung und Wirtschaftswachstum seien gleichzeitig möglich. Alles was dafür nötig sei, seien Mut, Überzeugungskraft und die europäische Geschlossenheit.
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