Brandstätters Blick: 1934 einmal aus ganz anderer Perspektive

Brandstätters Blick: 1934 einmal aus ganz anderer Perspektive
Geschichtsstunde: Ein vergessener christlich-sozialer Politiker und seine unmögliche Aufgabe.

Dr. Ernst Karl Winter, Soziologe, Historiker, Philosoph (1895 – 1959). Vizebürgermeister der Stadt Wien.

Ein Vizebürgermeister war in dieser Zeit kein Demokrat, und sicher kein Sozialdemokrat. Warum also wurde im Jahr 1995 ein alter Gemeindebau nach ihm benannt – und was soll der Satz: „Sein Lebenswerk galt der Versöhnungspolitik mit der Sozialdemokratie?“

Einen ersten Hinweis bietet die „Geschichte der ÖVP“ von Ludwig Reichhold aus dem Jahr 1975, wo die vielfältige Herkunft der Volkspartei detailliert beschrieben wird. Ernst Karl Winter war einer der Spitzenfunktionäre des autoritären Ständestaates, die beim Einmarsch der Nazis im März 1938 flüchten mussten, wollten sie nicht im Gefängnis oder im Konzentrationslager landen. Details zu Winters Leben finden sich auf der Website des Österreichischen Cartellverbands (ÖCV), er war Mitglied der Nibelungia. Winter war im 1. Weltkrieg ein Regimentskamerad von Engelbert Dollfuß, der im Jahr 1933 das austrofaschistische Regime errichtete.

Interessantes Detail: Winter lehnte als Soldat ein Duell ab und konnte deshalb nicht Offizier werden. Aber er blieb auch nach dem Zusammenbruch des Habsburger-Reichs Monarchist und engagierte sich gleichzeitig mit anderen dafür, die Idee der eigenen österreichischen Nation zu entwickeln.

Brandstätters Blick: 1934 einmal aus ganz anderer Perspektive

Die Tafel vor dem Gemeindebau in Währing: Versöhnung mit der Sozialdemokratie.

Für den sozialen Ausgleich

Ernst Karl Winter sah in der Auflösung des Parlaments und der Parteien einen Verfassungsbruch und vertrat diese Meinung auch gegenüber Engelbert Dollfuß. Aber nach dem 12. Februar 1934, der Niederschlagung der Sozialdemokraten, war er einverstanden, 3. Vizebürgermeister von Wien zu werden. Seine Mission: Den Kontakt zur Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten, „Versöhnungspolitik“ zu betreiben, wie es auch auf der Tafel vor dem Gemeindebau steht. Seine Gruppe nannte sich „Aktion Winter“, ihr Motto: „Rechts stehen und links denken“. Sowohl der soziale Ausgleich als auch Ideen zum Umweltschutz gehörten zu den Grundsätzen. Nach der Ermordung von Dollfuß am 25. Juli 1934 durch die Nazis verlor Winter den Rückhalt bei den Christlich-Sozialen, blieb aber bis 1936 Vizebürgermeister.

Das Exil verbrachte Winter in den USA, er hatte eine Professur für Soziologie in New York, erst zehn Jahre nach Kriegsende kam er nach Wien zurück.

Frage an Erhard Busek, den früheren ÖVP-Chef und Vizekanzler, gleichzeitig ein wandelndes Lexikon für die Geschichte der ÖVP: „Warum kam er nicht schon früher?“ Busek: „ Es gab für ihn und seine Ideen keine Verwendung. Der sogenannte Mythos der Lagerstraße hatte ja eine reale Grundlage. Die Versöhnung zwischen Schwarzen und Roten fand vor allem im KZ Dachau statt.“ Beim sogenannten Prominententransport waren schon Anfang April 1938 Gegner der Nazis nach Dachau transportiert worden, wo sie den größeren Feind erkannten. Christlich-Soziale und Sozialdemokraten sprachen über eine künftige Zusammenarbeit.

Die Geschichte Winters zeigt aber auch die Vielfältigkeit, die es im bürgerlichen Lager immer gegeben hat – die christliche Arbeiterbewegung, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, und Kleingewerbetreibende, beide begleitet von antisemitischen Tönen. Dazu Bauern, Beamte, bürgerliche Monarchisten und Unternehmerverbände. Ähnlich breit war auch stets die Herkunft der führenden Persönlichkeiten. Die katholische Soziallehre war das Verbindende, dazu das Bekenntnis zu Österreich und damit die Ablehnung der Deutsch-Nationalen. Schon die Studentenverbindungen standen einander feindlich gegenüber.

Die Vielfalt, auch im Föderalismus, hat nach 1945 die neu gegründete ÖVP ausgemacht. Eine Volkspartei mit inhaltlicher Breite und großem Hang zum innerparteilichen Diskurs. Das, finden manche in der ÖVP, ist heute nicht mehr modern.

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