Bierlein: „Die Wahlaufhebung war ein heilsamer Schock“
KURIER: Frau Präsidentin, Ihr Vorgänger hat gesagt, der VfGH müsse unbequem sein. Wie unbequem wollen Sie’s anlegen?
Brigitte Bierlein: Der Verfassungsgerichtshof ist tatsächlich nicht dazu da, um bequem zu sein. Egal, welches Thema an uns herangetragen wird, ob die Ehe für alle oder die Mindestsicherung: Wir können uns nicht entschlagen, der Verfassungsgerichtshof hat zu entscheiden.
Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, sich auch zu gesellschaftspolitischen Fragen zu äußern?
Unsere primäre Aufgabe ist die Beantwortung von Rechtsfragen. Ich würde meine Stimme erheben, wenn wie in Polen oder der Türkei der Rechtsstaat oder die Demokratie in Gefahr sind. Aber das sehe ich – Gott sei dank – in Österreich derzeit überhaupt nicht.
Sind Sie mit Ausstattung und Budget des VfGH zufrieden?
Wir haben zwei juristische Planposten dazubekommen, in absoluten Budget-Zahlen aber verloren. Parallel dazu hat die Zahl der Fälle unglaublich zugenommen, konkret um 30 Prozent auf 5047 Fälle pro Jahr. Unsere Richter und Mitarbeiter sind sehr belastbar und arbeiten mit Freude. Aber wir sind am Limit.
Derzeit dauern Verfahren am VfGH im Schnitt 4,5 Monate. Wird das so bleiben?
Im internationalen Vergleich sind wir ausgezeichnet unterwegs. Steigt die Last aber weiter, werden die 4,5 Monate schwer zu halten sein.
Wäre es eine Alternative, das Richter-Gremium zu teilen? Auch in Deutschland arbeiten zwei Kammern parallel.
Ich persönlich halte wenig davon, eine zweite Kammer einzurichten. Es bestünde die Gefahr, dass in vergleichbaren Fällen unterschiedlich entschieden wird.
Der Verfassungsgerichtshof ist auch Schlichtungsstelle des Parlaments. Ist Ihnen wohl dabei?
Dass wir beim U-Ausschuss zur Schlichtungsstelle wurden, birgt die Gefahr, in die Tagespolitik hineingezogen zu werden. Trotzdem sind diese Streitfragen beim VfGH immer noch am besten aufgehoben.
Bisweilen wird dem VfGH ja vorgeworfen, er entscheide ideologisch oder parteilich...
Ein Verfassungsgericht ist immer ein Grenz-Organ, das sich zwischen Politik und Recht bewegt, und die Vorschläge, wer als Mitglied an den Gerichtshof kommt, stammen von politischen Gremien. Allerdings sind die Richter, sobald sie hier sind, völlig unabhängig. Ich kann Ihnen aufgrund des Amtsgeheimnisses nicht mehr dazu sagen, aber: Sie würden sich wundern, wie angeblich konservative oder liberale Kollegen tatsächlich abstimmen.
Das heißt, Sie sind dagegen, dass das Stimmverhalten der Richter veröffentlicht wird?
Ich halte nichts von der so genannten Dissenting Opinion, weiß aber, dass es auch am Gerichtshof andere Meinungen gibt. Für die Einheit des Gerichts ist das aktuelle System meines Erachtens nach besser. Wird das Stimmverhalten der einzelnen Richter öffentlich, setzt man sie einem Druck aus, der nicht nötig ist. Dieser Druck würde zusätzlich steigen, wenn sie auf eine Wiederbestellung hoffen müssten. Ich halte unser System, bei dem VfGH-Richter bis zum 70. Lebensjahr bestellt sind, für ideal.
Einige Verfassungsrichter üben nebenbei einen Zivilberuf aus. Wie passt das zur erwähnten Arbeitslast?
Als dieses System entwickelt wurde, wollte man, dass die Höchstrichter über den Tellerrand schauen. Richter-Kollegen, die als Rechtsanwälte arbeiten, sind mit verschiedensten Vorschriften in der täglichen Praxis konfrontiert. Auch die Universitätsprofessoren bringen eine eigene Sicht der Dinge ein. Der Zweitberuf hindert die Richter nicht an der guten Arbeit im Gerichtshof, im Gegenteil: Er bietet einen unglaublichen Mehrwert.
Sie sind die erste weibliche VfGH-Präsidentin, insgesamt hat sich der Frauenanteil aber verringert. Schmerzt das?
Der Rückgang der Frauenquote ist tatsächlich bedauerlich, zumal der VfGH überhaupt spät dran war. Das erste weibliche Mitglied gab es erst 1994.
Woran liegt das?
Sicher nicht an der Qualifikation, es gibt hervorragende Kandidatinnen. Allerdings haben sich diesmal auffallend wenige Frauen für die Richterposten beworben. Offensichtlich trauen sich Frauen immer noch weniger zu als Männer.
Die meist beachtete VfGH-Entscheidung aller Zeiten war die Aufhebung der Bundespräsidentenwahl. Wie haben Sie die wahrgenommen?
Die Fehler, die bei der Wahl selbst begangen wurden, waren mengenmäßig und qualitativ erstaunlich. Insofern war die Aufhebung der Stichwahl ein heilsamer Schock, weil beim Wahlrecht einfach nicht zu tolerieren ist, dass Bestimmungen verletzt oder lasch ausgelegt werden.
Es gab einen VfGH-Kollegen, der die Entscheidung öffentlich kommentiert hat. War das klug?
Lassen Sie mich so antworten: Wir haben die Usance, dass der oder die Präsidentin den VfGH nach außen vertritt. Das halte ich für die ideale Lösung.
Derzeit läuft das Buwog-Strafverfahren, das seit den ersten Ermittlungen mehr als neun Jahre dauert. Könnte das grundrechtlich ein Problem werden?
Diese Dauer erscheint tatsächlich problematisch. Ein Betroffener könnte im Fall eines Schuldspruchs als Ultima Ratio wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen.
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