Arbeitergewerkschafter Binder: "Es gibt einen Verteilungskampf"

Reinhold Binder
Der neue Chef der PRO-GE, Reinhold Binder, über die Teuerung, die SPÖ – und warum er das Wahlarzt-System abschaffen würde.

KURIER: Herr Binder, Sie werden am Donnerstag Chef der größten Arbeitergewerkschaft. Der Sozialstaat funktioniert, die Lebensqualität ist gut, arbeitsrechtliche Details liest man online nach. Böse gefragt: Wozu braucht’s noch eine Gewerkschaft?
Reinhold Binder: Wir hatten im Vorjahr 16.000 neu eingetretene Mitglieder. Ein Beweis, dass Gewerkschaften wichtiger denn je sind. Und weil Sie Google erwähnt haben: Wir sehen gerade bei jüngeren Kollegen, dass der erste Vertrag, den man mit 15 unterschreibt, weitreichende Folgen haben kann. Aber ich will ein Positiv-Beispiel bringen: In der Elektroindustrie wurde bereits im Vorjahr erreicht, dass das Lehrlingseinkommen im ersten Jahr 1.000 Euro beträgt. Dafür braucht’s starke Gewerkschaften.
 
Bleiben wir beim Geld. Die Metaller sind Vorreiter bei den Lohnverhandlungen im Herbst. Die Inflation ist unverändert hoch. Fordern Sie zweistellige Lohnzuwächse?
Die Arbeitnehmer haben die Teuerungen selbst abfedern müssen, bei Mieten, Lebensmitteln, Treibstoff, etc. Dem stehen schöne Profite gegenüber. Es gibt also einen Verteilungskampf. Ich weiß, dass es immer heißt, wir sollen uns in Zurückhaltung üben. Meine Antwort lautet: Wir wollen einen Reallohnzuwachs und Abschlüsse unter der Inflation wird es nicht geben. Die schwierige Situation ist ja vor allem dem Nicht-Handeln der Politik zuzuschreiben.
 
Inwiefern?
Die hohen Preise bei Grundnahrungsmitteln sind nur zum Teil mit der Inflation zu erklären. Tatsächlich wird hier viel mehr aufgeschlagen. Die Gewerkschaften haben schon vor einem Jahr Konzepte vorgelegt, um das zu beheben – zum Beispiel Kontrollen oder das Aussetzen der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel.
 
Wie soll die Politik sicherstellen, dass die Konzerne die Steuersenkung 1:1 an die Konsumenten weitergeben?
Durch Preiskontrollen und eine Kommission, die diese durchführt.
 
Wie erklären Sie sich, dass die Tourismusbranche über Buchungsrekorde jubelt und der Konsum brummt? Geht’s uns vielleicht besser als wir wahrhaben wollen?
Unsere Mitglieder arbeiten oft im Schichtbetrieb, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Das sind Jobs, da muss man duschen, bevor man sich ins Auto setzt und nach Hause fährt. Dass so jemand Urlaub braucht, ist hoffentlich keine Diskussion. Was die Arbeitsbedingungen insgesamt angeht, gibt es nach wie vor  viel zu tun. 
 
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie die Erntearbeiter. Das sind jene Menschen, die knieend den Spargel stechen und das Gemüse ernten. Es ist für mich ein Skandal, dass Arbeitsminister Kocher seit 1. Juni ermöglicht, drei Erntehelfer in einem Container auf 13 Quadratmetern unterzubringen. Sieht so Wertschätzung aus?
 
SPÖ-Landeshauptmann Hans Peter Doskozil hält gesetzlich verordnete Mindestlöhne für eine gute Lösung. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Wer das fordert, hat sich zu wenig mit dem System der Kollektivverträge beschäftigt. Ein Argument dagegen ist, dass jede Regierung gesetzlich verordnete Mindestlöhne wieder abschaffen kann – mit entsprechenden Kollateralschäden. Aber Kollektivverträge regeln nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch die Arbeitsbedingungen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Politiker besser wissen, was Betriebe und Beschäftigte brauchen als die Betroffenen selbst.
 
Sie fordern auch eine Verkürzung der Arbeitszeit. Wie passt die zum Arbeitskräftemangel? Der würde dadurch weiter verschärft.
Die letzte Arbeitszeitverkürzung ist fast 50 Jahre her, die Produktivität ist seither massiv gestiegen – das gilt es abzubilden. Ob das durch eine Verringerung der Arbeitszeit oder durch das leichtere Erreichen der sechsten Urlaubswoche gelingt, lasse ich einmal offen.
 
Was sagt der Chef der größten Arbeitergewerkschaft zum Zustand der Sozialdemokratie?
Ich bin froh, dass die Entscheidung getroffen und Klarheit geschaffen wurde. Inhaltlich gibt es viele Übereinstimmungen mit Andreas Babler. Seine Forderung nach einer Vermögenssteuer unterschreibe ich sofort. Und im Unterschied zu seinem Mitbewerber, der mit dem gesetzlichen Mindestlohn ein „No-Go“ gefordert hat, weiß Babler um den Sinn der Kollektivvertragspolitik. Wir werden gemeinsam mit ihm für die Rechte und Mitsprache der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kämpfen.

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