Reden wir über unsere Ängste
Täglich sitzen wir in der Redaktion zusammen und führen Diskussionen, wie überall im ganzen Land: Wie viele Flüchtlinge werden noch kommen, wird es doch irgendwann eine sinnvolle Aufteilung in Europa geben, was kann man gegen die Schlepper machen? Vor allem aber: Was bewegt die Bevölkerung mehr? Die Angst vor den Flüchtlingen oder die Wut auf die Regierung, die es nicht schafft, Menschen in Not ordentlich unterzubringen?
Die einen Leser fordern, dass wir noch mehr Hilfsaktionen starten müssen, die anderen verstehen nicht, dass der KURIER die Gemeinde gesucht hat, wo Flüchtlinge am freundlichsten aufgenommen werden. Das Land ist gespalten, die Emotionen nehmen zu, und der Wahlkampf in Wien gibt dem Ganzen noch eine schräge Note. Denn die Zukunft der Stadt wird nicht von ein paar Tausend Flüchtlingen abhängen, sondern von den richtigen Entscheidungen für Wirtschaft, Wohnbau, Verkehr und Bildung. Aber viele Medien verbreiten mehr Bilder als Informationen und mehr Gefühle als Gedanken. Und gerade Politiker in Stadt und Land, die glaubten, mit diesen Methoden - und viel Steuergeld – den Boulevard beeinflussen zu können, wirken jetzt hilflos, weil sie weder Inhalte noch Tempo bestimmen können.
Aber reden wir Österreicher gerade über Syrer, Iraker und Afghanen? Nein, wir reden in Wirklichkeit über uns, über unsere Ängste, alles zu verlieren, was den Erfolg der 2. Republik ausgemacht hat. Die – trotz ihrer informellen Strukturen – übersichtliche politische Landschaft, dazu ein Wirtschaftswachstum, das für die gesamte Bevölkerung eine permanente Verbesserung des Lebensstandards garantierte, von der Wohnung bis zum Urlaub. Gleichzeitig pflegte das offizielle Österreich einen allgemein akzeptierten und sympathisch verkleideten Opportunismus, von der UNO bis zur EU überall mitreden zu wollen, sich aber im Zweifel herauszuhalten. Da rufen wir das Wort Neutralität, mindestens so schnell, aber gar nicht verzweifelt – es ist ja Staatsdoktrin – wie ein Flüchtling an der Grenze. Und wir waren stolz auf die Blauhelme am Golan, aber nur solange, bis es gefährlich zu werden drohte.
Außenminister Alois Mock schnitt 1989 den Eisernen Vorhang durch. Wer vor dem Kommunismus floh, war immer willkommen.
Die Nachkriegsordnung endete in Jugoslawien mit einem Bürgerkrieg, aber an der Schnittstelle der beiden Blöcke und in Osteuropa ging sie vor 25 Jahren unblutig zu Ende, während sich nun das viel ältere koloniale Erbe in Afrika und Nahost in Chaos auflöst. Jetzt soll ein Zaun in Ungarn Schutz bieten, damals hat das Durchschneiden des Eisernen Vorhangs Freiheit signalisiert. Finanzkrise, digitale Revolution und der Boom in Asien rütteln unser Wirtschaftssystem von außen durch. Da soll man keine Angst bekommen? Also reden wir über die Ängste.
Der Erforscher der "österreichischen Seele", der 1994 verstorbene Psychiater Erwin Ringel, formulierte: "Je mehr ein Mensch bereit ist, im Fremden den Feind zu sehen, umso weniger kennt er sich selber." Wer sind wir Österreicher? Ein buntes Gemisch aus Deutschen, Tschechen, Serben, Kroaten und anderen Völkern. Ein Überbleibsel einer mächtigen Monarchie, das 1918 nicht leben wollte und einen Bürgerkrieg sowie die Nazis brauchte, um über einen schrecklichen Umweg zur Demokratie zu finden. Aber auch ein geordnetes Staatswesen, das manchmal in der Verwaltung erstickt und dann wieder durch Innovationskraft, Flexibilität und Mut Unternehmen hervorbringt, die auf den Weltmärkten bestehen.
Das Bekenntnis zu diesem Österreich als Kleinstaat in Mitteleuropa musste nach dem 2. Weltkrieg erst wachsen und wurde durch den rasanten Zuwachs an breitem Wohlstand bei gleichzeitiger Stabilität im In-und Ausland gefördert. Innenpolitische Krisen waren leicht zu bewältigen, weil anfangs die Erinnerung an den Bürgerkrieg als Abschreckung diente und die Sozialpartnerschaft ein Korsett bildete, das auch Regierungswechsel überdauerte. Bei außenpolitischen Krisen wiederum konnte man sich wegducken, Wien war ja zum Unterschied von Berlin keine geteilte Stadt. Beim Ölpreisschock der 1970er-Jahre half das Autopickerl, die Staatsindustrie verschwand leise, als sie unfinanzierbar wurde. Ja, so vergleichsweise klein waren unsere Probleme.Grundsätzliche Fragen vermieden wir. Der Beitritt zur Europäischen Union war Ausdruck der Hoffnung, als Exportnation besser reüssieren zu können.
Dass wir Souveränität abgeben, Verantwortung für andere übernehmen, war bestenfalls gewissen Experten klar. Der Erfolg der Sozialpartner bestand darin, Wachstum ohne gröbere Konflikte zu verteilen, vor einer neuen Generation von Arbeit Suchenden stehen sie ratlos, weil sie nur die Verteidigung von Rechten geübt haben, nicht das Suchen von Chancen. Die Chancen aber, die liegen nicht nur vor der Haustüre, sondern in den weltweiten Märkten, aber dort lauern noch mehr Gefahren. Unter "Digitalisierung" wird hierzulande noch immer das Internet und damit verbundene Einrichtungen wie facebook oder Google verstanden. Aber gerade Google ist nicht nur eine Suchmaschine, sondern das Symbol für völlig neue Produktionsweisen und den Aufbau von digitalen Monopolen. Das Industriezeitalter, das uns zunächst Arbeit und dann Wohlstand gebracht hat, geht zu Ende.
Heute bauen wir Zäune, um Flüchtlinge aus Nahost und Afrika fernzuhalten.
Der italienische Philosoph Antonio Gramsci hat den "Fordismus" aus marxistischer Sicht analysiert. Das Fließband hat ja nicht nur in der Autofabrik Henry Fords die Produktion vereinfacht und den Arbeitern steigenden Löhne beschert. Geradezu prophetisch schreibt er 1929 in seinen "Gefängnisheften" über die Folgen: "Es ist das Ideal eines jeden Elements der führenden Klasse, die Bedingungen zu schaffen, unter den seine Erben leben können, ohne zu arbeiten, also von Rendite. Wie kann eine Gesellschaft gesund sein, wenn gearbeitet wird, um in der Lage zu sein, nicht mehr zu arbeiten?
Man muss kein Marxist sein, um jetzt zu fragen: Wie kann ein Kapitalismus gesund sein, wenn das Kapital immer weniger für die Produktion von Gütern und immer mehr für das Spekulieren verwendet wird, wo aus Geld wieder nur Geld gemacht wird? Was passiert, wenn Roboter zunehmend den Menschen die Arbeit wegnehmen? Und das in einer digitalen Welt, wo wirtschaftliche Entscheidungen kaum noch auf nationaler Ebene getroffen werden können.Kein Wunder, dass hier nur von Wirtschaft die Rede ist. Die Politik schaut hilflos zu, wenn mit immer mehr Milliarden in Bruchteilen von Sekunden völlig unproduktiv spekuliert wird und dabei auch keine Steuern abfallen. Das Flüchtlingshilfswerk der UNO lindert bestenfalls die Symptome von Krisen, denen Länder zusehen, die per Waffenlieferungen daran verdienen. Und die EU beweist eben, dass sie weder europäisch noch eine Union ist. Jeder Staat rettet sich, so gut er kann. Weniger Solidarität war noch nie in Europa.
Da sind wir wieder bei den Flüchtlingen. Ja, diese Ströme sind eine riesige Herausforderung. Aber man darf sich schon wundern, wie unfähig eine sonst geübte Verwaltung da steht. Und zur Religion: Vielleicht machen uns die Moslems auch deshalb Angst, weil wir mehrheitlich mit unserem Christentum nicht mehr viel anzufangen wissen.
Wir können jetzt unsere Grenzen dicht machen, "Ausländer raus" rufen, uns dann in die Augen schauen und einbekennen, dass wir mit unseren Vorstellungen und Werten gescheitert sind. Oder wir können helfen, ordentliche Asylverfahren durchführen und darüber nachdenken, wie wir Wohlstand und Menschlichkeit unter den neuen, völlig anderen weltweiten ökonomischen Bedingungen erhalten. Die politische Ordnung und unser Wirtschaftssystem sind in der Krise. Aber: Das wären sie auch ohne einen einzigen Flüchtling.
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