Heimkind: "Wurde von Soldaten vergewaltigt"
Nach mehr als 40 Jahren bricht eine Frau ihr Schweigen. "Es ist genug, es muss endlich raus", sagt Hanni P., 61, aus Tirol. Sie war Ende der 1960er-Jahre "rund zweieinhalb Jahre lang" im berüchtigten Erziehungsheim St. Martin in Schwaz in Tirol, über das der KURIER seit Tagen wegen der Kinderarbeit für Firmen berichtet.
Besonders schlimme Erinnerungen verbindet sie mit dem Karzer in St. Martin. Sie musste, wie viele andere Teenager auch, in dem finsteren Kellerloch ohne Bett Tage und Nächte in Einzelhaft verbringen. Zugedeckt mit Erdäpfelsäcken. "Da sind die Käfer über dich drübergekraxelt."
Doch die furchtbarsten Stunden erlebte Hanni P. nicht in der dunklen Einsamkeit. Bei den Maskenbällen im Heim, die alljährlich am Faschingsdienstag in der Erziehungsanstalt gefeiert wurden, sei ihr weit Schlimmeres widerfahren, sagt die 61-Jährige.
Maskenball
Lustig ging es zu. Die Mädchen aus dem Heim mussten verkleidet Kunststücke zeigen, singen und tanzen. Das erlauchte Publikum, darunter Offiziere und Unteroffiziere einer oder mehrerer Kasernen, und offenbar auch lokale Honoratioren in schönen Anzügen, durfte sich an den Darbietungen ergötzen.
Das anschließende Buffet war für die Gäste bestimmt. Die Mädchen durften sich angeblich nicht daran laben. Dann begann der Tanz. "Die Soldaten haben uns sehr herablassend behandelt", erinnert sich Waltraud R., die zur selben Zeit in St. Martin untergebracht war. "Die haben uns spüren lassen, dass wir für sie wertlose Heimkinder waren."
Fünf Männer
Doch einige Soldaten dürften nicht nur getanzt haben. Hanni P. erzählt vom Maskenball 1968: "Die Erzieherin M. hat vier, fünf Mädchen beim Namen gerufen, mich auch." Sie sei von M. "ins Krankenzimmer" gebracht worden. Was dann passiert sein soll, bringt Hanni P. kaum über die Lippen. "Es sind fünf Männer ins Zimmer gekommen."
Der erste Mann sei über sie, die damals 16 Jahre alt und jungfräulich war, hergefallen. "Er hat mich vergewaltigt." Auch ein Zweiter habe sie sexuell missbraucht. Die anderen sollen anschließend ihre Notdurft auf dem Mädchen verrichtet haben. Wer die Männer waren? Namen kennt sie nicht. Aber die "grauen Uniformen" sieht sie heute noch vor sich. "Es waren fünf Bundesheerler. Keine jungen Rekruten", betont Hanni P., "das waren erwachsene Männer".
Ähnliches sei beim Maskenball 1969 geschehen. Auch da seien es "vier bis fünf Bundesheerler" gewesen. "Aber als ich die nackten Männer gesehen habe, habe ich nur noch geschrien."
Glatze geschoren
Erzieherin M. sei daraufhin ins Zimmer gekommen und habe sie in den Karzer geworfen. Nicht ohne ihr vorher die Haare abzuscheren, wie es bei Karzer-Häftlingen offenbar üblich war. Schon nach der Vergewaltigung im Jahr davor sei sie in das Kellerloch geworfen worden. Aber zumindest damals sei sie zuvor "eine Stunde lang unter die Dusche gestellt" worden.
Das ehemalige Heimkind Waltraud R. sagt, sie selbst habe dieses Martyrium nicht über sich ergehen lassen müssen. "Aber ich kann mir das gut vorstellen."
Seitens des österreichischen Bundesheeres zeigt man sich erschüttert. "Ich bin tief betroffen", sagt der Tiroler Militärkommandant Generalmajor Herbert Bauer. "Ich stehe jederzeit für Gespräche zur Verfügung, wenn das von Betroffenen gewünscht wird." Das Bundesheer werde "unverzüglich eine Untersuchungskommission einrichten". Außerdem werde man bei den im Land Tirol eingerichteten Arbeitsgruppen "vollinhaltlich mitwirken", sagt Bauer.
Der KURIER konfrontierte eine Tiroler Kinderheim-Expertin mit den Vorwürfen. Sie kennt die Geschichte von Hanni P. seit geraumer Zeit: "Die Schilderungen entsprechen sicher den Tatsachen." Höchstens Details, wie etwa die konkrete Anzahl der Männer, könnten variieren.
Erst nachdem sie eine Psychologin aufgesucht habe, sagt P., habe sie über "die Schändung" reden können. "Ich habe vor zwei Monaten zum ersten Mal mit meinem Mann und meinem Sohn darüber gesprochen." 43, 44 Jahre nach den Vorfällen. Im Heim selbst sei darüber nie gesprochen worden. "Wir haben uns ja so was von geschämt ..."
Sechsjährige bekam Tier-Hormone
Hanni P. kam 1952, im Alter von einem Jahr, in das SOS Kinderdorf in Imst. Bevor sie sechs Jahre alt war, wurde Hanni P. von Maria Nowak-Vogl begutachtet. Die Psychiaterin hatte in der Tiroler Jugendfürsorge alle Fäden in der Hand. Wegen "sexueller Auffälligkeit" wurde das noch nicht einmal schulpflichtige Mädchen in die Kinderbeobachtungsstation überstellt. Dort wurde sie, wie viele andere auch, mit dem Tier-Hormonpräparat "Epiphysan" behandelt, das laut Nowak-Vogl den Sexualtrieb hemmen sollte.
Der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber, der sich seit Jahren mit der Aufarbeitung der Tiroler Kinderheim-Geschichte befasst, kennt auch den Fall Hanni P. Er hat die Akten der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation gesichtet. "Ja, sie wurde mit Epiphysan behandelt und zwar gegen Triebhaftigkeit, wie Nowak-Vogl das nannte", sagt Schreiber. "Und das im Alter von sechs Jahren."
Hanni P. war zeitweise bei Nowak-Vogl interniert, dann im Kinderheim Kramsach. 1968 kam sie nach Schwaz ins Heim St. Martin. Und wurde vergewaltigt (siehe oben) . Heute ist sie seit 40 Jahren verheiratet und hat einen Sohn.
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