Pro & Contra: Welches Europa?

Lukas Sustala und Agnes Streissler-Führer
Im Schatten der Ibiza-Affäre findet am Sonntag die EU-Wahl statt. In welche Richtung soll der Kontinent gehen?

Lukas Sustala,Vizedirektor bei Agenda Austria

Ibiza überschattet Europa. Zack, zack, zack und schon ist die Europa-Wahl medial in den Hintergrund gedrängt. Dabei war der Wahlkampf schon zuvor zu flach angesichts der großen Herausforderungen. Die Eurozone und die Europäische Union sind in vielen Fragen unvollständig – und damit auch fragil. Und Fehler der Vergangenheit, etwa dass die offiziellen Regeln zum Beitritt von Ländern wie Italien nie eingehalten worden sind, rächen sich bis heute.

Doch Österreich befand sich schon vor Ibiza-Gate und der Regierungskrise in einem faktenfeindlichen Wahlkampfmodus. Manche plakatieren in „Österreich zuerst!“-Manier. Ganz so, als ob ein kleines Land nicht wesentlich vom EU-Beitritt und dem Herzstück der Union, dem Binnenmarkt, profitierte. Wieder andere versuchen, mit dem scheinbaren Gegensatzpaar von „Mensch statt Konzern“ zu spalten. Ganz so, als sei Brüssel zuallererst Konzernzentrale statt europäischer Hauptstadt. Im Wahlkampf lautet das europäische Motto dann eben nicht „e pluribus unum“, Einheit in Vielfalt, sondern alle gegen einen.

Dabei könnte Europa ein klarer Gegenentwurf zum autoritär-chinesischen Modell sein, das staatlich gelenktes Wachstum über alles stellt. Dafür braucht es klare Spielregeln, Wettbewerb und gemeinsame Strategien für Wachstum oder Forschung – statt Regierungen, die gerne „ihre“ Konzerne und Märkte abschotten. Mensch und Konzern wäre für Europa das interessantere Motto – auch hier sollte in Zukunft ein Google entstehen können.

Agnes Streissler-Führer, Ökonomin bei der Gpa-djp

Meine Vision für Europa heißt Nachhaltigkeit. Jetzt werden Sie zu Recht sagen: Was für ein großes, kaum verständliches Wort! Dabei heißt es einfach, verantwortlich darauf zu schauen, was nach uns kommt und nicht auf das Mehr, sondern auf das Besser zu achten. Wieso glaube ich an ein Europa als Vorreiter der Nachhaltigkeit? Dafür muss man verschiedene Dimensionen betrachten: eine wirtschaftliche, eine ökologische und eine soziale.

Wirtschaftlich sind Europas Unternehmen seit vielen Generationen in der Lage, sich immer wieder neu zu erfinden. Wir brauchen weder amerikanische Disruption (alles Alte weg, her mit dem Neuen) noch chinesischen Staatskapitalismus. Etwas bedächtiger als anderswo passiert in Europa dennoch Innovation und Unternehmen haben dauerhaften Bestand. Ökologisch haben die europäischen Forschungsinstitutionen die Nase vorn: Wir haben die Rezepte gegen den Klimawandel und in einer gemeinsamen Anstrengung, getragen von staatlichen Infrastrukturinvestitionen, könnten wir rasch sehr viel auf die Beine stellen.

Und schließlich sozial: Niemand soll zurückbleiben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in vielen Ländern Europas Modelle des sozialen Dialogs, der Sozialpartnerschaft entwickelt, die dafür sorgten, dass die Veränderung fair war und niemand dauerhaft zu Verlierern wurde. Das müssen wir fortsetzen, wieder aufleben lassen und das ist das Europa, für das ich kämpfe und für das ich Sonntag wählen gehe.

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