Die wahre „Reichskristallnacht“: Was im November 1938 passierte
Man schrieb das Jahr 1938, und das Leben der Juden war schon seit jenem 12. März, als Hitler in Österreich einmarschierte, ein ganz anderes gewesen als je zuvor. Doch mit dem 9. November kam alles noch viel schlimmer, als man es sich je hätte vorstellen können. „Reichskristallnacht“ nannten die Nationalsozialisten jene Nacht, in der die Synagogen, Geschäfte und Wohnungen all derer brannten, die sie als „nichtarisch“ bezeichneten. Viele starben, wurden verletzt, verhaftet.
Ein damals schon alter Herr hat mir vor etlichen Jahren von jener Nacht erzählt. Herr Weiss, so hieß er, war im November 1938 dreizehn Jahre alt, er wohnte in der Wiener Leopoldstadt und ging dort zur Schule. „Wir blieben am 10. November zu Hause“, sagte er, „weil uns die Nachbarn gewarnt hatten, auf die Straße zu gehen.“ Er stand mit seinen Eltern am Fenster der Wohnung in der Großen Sperlgasse, sah die Rauchschwaden der brennenden Häuser, hörte das Klirren der Scheiben, beobachtete die aus HJ-Burschen, SA-Leuten und Zivilisten mit Hakenkreuzfahnen bestehenden Rollkommandos, die in Lastautos plündernd durch die Straßen fuhren und Männer wie Frauen, die sie für Juden hielten, zusammenfingen.
Schutt und Asche
Als sich Herr Weiss am übernächsten Tag wieder aus dem Haus wagte, sah er zertrümmerte Häuser und Geschäftslokale. „Ich wollte in die Synagoge gehen, um meine Gebetbücher zu holen, aber das Gebäude lag in Schutt und Asche.“
Das Bethaus im 2. Bezirk war eine von 42 Wiener Synagogen, die am 9. und 10. November 1938 und in der dazwischenliegenden Nacht dem Erdboden gleichgemacht wurden. 27 Wiener Juden waren getötet und 88 schwer verletzt worden. Dazu kamen 2000 Wohnungen, die „judenrein“ gemacht und 4000 Geschäfte, die – bereits Tage davor mit „Judensternen“ gekennzeichnet – vernichtet wurden. Tausende Menschen wurden verhaftet und nach Dachau verschleppt. Nicht anders erging es den Juden in Graz, Linz, Innsbruck und in den anderen ehemals österreichischen Städten, die jetzt zur „Ostmark“ gehörten.
Und im Rest des ganzen „Deutschen Reichs“, wo man insgesamt 20.000 Juden gefangen genommen und 91 ermordet hatte. Die geborstenen Auslagenscheiben der zerstörten Geschäfte hatten der Terroraktion den zynischen Namen „Reichskristallnacht“ verliehen.
Vergeltung
Das Ganze nannte sich „Vergeltungsaktion“ für ein zwei Tage zurückliegendes Attentat auf Ernst von Rath, den deutschen Legationssekretär in Paris, durch den 17-jährigen Polen Herschel Grynspan, dessen Eltern von den Nazis deportiert worden waren. Joseph Goebbels, der Propagandaminister, verstand es in wüsten Hetzreden die Verantwortung für den Anschlag dem ganzen Judentum anzulasten. „Das deutsche Volk“ müsse „aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen“. In Radioaufrufen wurde der Bevölkerung „spontane Volkswut“ nahegelegt, die Gestapo erhielt den Auftrag, gegen Juden gerichtete Aktionen nicht zu stören.
Als der Wiener „Gauleiter“ Josef Bürckel Mitte November nach Berlin telegrafierte, dass „die völlige Ruhe wiederhergestellt ist“, waren die mörderischen Maßnahmen, wie man weiß, nicht beendet. Der Holocaust sollte ungeahnte Folgen annehmen und dauerte bis zum Ende der Schreckensherrschaft. Am 9. und 10. November 1938 hatten freilich viele Österreicher, die bis dahin noch immer nicht an die Brutalität der Nazis glauben wollten, das wahre Gesicht der neuen Machthaber erkannt.
Herrn Weiss, der mir seine Erinnerungen an die „Reichskristallnacht“ schilderte, ist mit seinen Eltern und Geschwistern die Flucht nach England gelungen, doch ein Großteil seiner Verwandtschaft fiel den Gaskammern zum Opfer. Die Novemberpogrome waren der Auftakt all dessen. Was, bitte sehr, hat das alles mit einer Demonstration gegen eine Ballveranstaltung im Jahre 2012 zu tun?
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