Die Straße als Kampfzone
Vielleicht fuhr er zu langsam. Oder zu weit in der Mitte. Agron Seji, 37, weiß nur mehr, wie ein weißer Ford Galaxy an seinem Auto vorbeiraste und ihn mit quietschenden Reifen auf der Raxstraße ausbremste. Der Fahrer vor ihm drosch auf ihn ein, vor seiner Familie, mit Fäusten, danach mit einer Axt. Geistesgegenwärtig riss der Maurer seinen linken Arm hoch, federte den Axt-Schlag ab, bevor ihn das Beil am Kopf traf. "Er hätte mich fast umgebracht", erzählt Seji. Seit dem Vorfall vor zwei Wochen in Wien-Favoriten fahre "die Angst im Auto mit".
Geschichten wie jene von Agron Seji häufen sich (siehe rechts) . Ähnlich erging es Robert O., der in Wien-Favoriten vor drei Wochen niedergestochen worden war.
Der Asphalt wird zunehmend zur Kampfzone, heißt es seit rund 15 Jahren. Und der Trend, sagen Verkehrspsychologen, halte an.
Zahlen über aggressives Verhalten von Pkw-Lenkern, die dies belegen würden, gibt es in Österreich nicht. Das liegt in der Natur der Sache: Die Spezies Autofahrer ist egozentrisch. Vieles wird viel zu rasch als Provokation gedeutet. "Man kann aber aus einem Verhalten nicht automatisch auf ein Motiv schließen", sagt Verkehrspsychologin Lilo Schmidt. Ein Beispiel: Ein Radfahrer benutzt die Fahrbahnmitte. Der Gedanke des Autofahrers: "Das ist ein Scherz, weg da!" Jener des Radfahrers: "Hauptsache, ich krieg’ keine Autotür ab!"
Ein Dilemma für die Wissenschaft: Beobachtungen sind damit obsolet, und in Interviews sind ehrliche Antworten so selten wie vorausschauende Autofahrer.
Schmidt, ein Urgestein der Verkehrspsychologie, fasst die These weiter: "Der Zustand der Gesellschaft spiegelt sich im Straßenverkehr wider." Die Kosten steigen, der Druck im Job ebenso, die Krisenstimmung ist allgegenwärtig.
Warum aber Erwachsene für zehn Meter asphaltiertem Vorsprung ihr Leben riskieren, liegt auch in der Psyche jedes Einzelnen. Je wichtiger einem Fahrer der Pkw ist, umso empfindlicher reagiert er. Zwar ist das Auto als Statussymbol angekratzt (Stichwort: Ökokrise). Für viele besteht aber eine unerschütterliche Liebe zum Getriebe. Oft fehle Bestätigung in der Familie oder im Beruf, sagt Schmidt. "Es ist eine gute Gelegenheit für eine Machtdemonstration."
"Jenseitig"
Die Werbung schüre den Frust noch weiter. "Freiheit, Unabhängigkeit, Schnelligkeit", sagt Marion Seidenberger vom ÖAMTC, würden suggeriert. Die Realität bringt Staus, Sprit-Rekordpreise, Tempolimits. Kollegin Schmidt hält die Werbeaussagen "für jenseitig". Auch bestimmte Autotypen hält sie für problematisch: Ein SUV, sagt Schmidt, sei "bullig, hoch, signalisiere automatisch eine Vorfahrt".
Noch dazu habe der Blick aus der Windschutzscheibe zwei gefährliche Effekte: Der andere wird als Auto und nicht als Person wahrgenommen. Und das Cockpit täuscht eine Anonymität vor, die die Hemmschwelle sinken lässt. Das Ergebnis: Schimpftiraden, Hupkonzerte, Schlägereien. Im Fall von Agron Seji ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Mordversuchs. Sein Rechtsanwalt, Nikolaus Rast, appelliert an die Justiz: "Hier muss ein Exempel statuiert werden." Aus generalpräventiven Gründen sei eine lange Haftstrafe angebracht. "Das soll sich herumsprechen."
Wege aus der Aggressionsspirale gibt es. Allgemein rät Schmidt zu Gelassenheit. "Lieber zuerst einen Kaffee trinken, runterkommen, erst dann losfahren." Als Strategie, um den Fokus umzulenken, empfiehlt sie einen spritsparenden Fahrstil. "Vorausschauend, ohne abrupt abzubremsen."
Aufreger: Ex-Politiker wurde ungemütlich
Nicht nur Durchschnittsbürgern, auch Promis gehen die Nerven durch oder sie werden Opfer von aggressiven Zeitgenossen.
Ausgebremst Der jüngste Wutanfall spielte sich am 2. Juni auf der A2 bei Ilz ab. Ein Angestellter, 40, aus Graz-Umgebung, wird von einem in Graz lebenden Türken auf der zweiten Spur zum Anhalten gezwungen. Der Mann schlägt die Seitenscheibe seines Autos ein und verletzt ihn.
Geschnitten Der ehemalige Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Gerd G., fühlt sich im Dezember 2009 auf der A10 bei Kuchl von einem Lkw-Fahrer in einem Baustellenbereich geschnitten. Der Deutsche revanchiert sich, bremst seinen Audi abrupt vor dem Lkw ab. Später vor Gericht werden beide mangels Beweisen freigesprochen.
Faustschlag TV-Moderator Armin Assinger hat im Juli 2010 eine Begegnung der schmerzhaften Art. Der Kärntner ist in Reifnitz mit einem Freund per Rad unterwegs. Ein deutscher Autofahrer, Polizist noch dazu, fühlt sich behindert, verpasst Assinger einen Faustschlag: Kiefer- und Jochbeinprellung. Bei Gericht wird der Fall mit Diversion beendet.
Ohrfeige Der Lenker eines Kleinlasters zuckt im Juni 2011 auf der A2 bei Hartberg aus. Vor ihm eine notorische Mittelspurfahrerin. Der Steirer, 33, fährt der Wienerin, 18, nach, stellt sie auf einem Parkplatz und ohrfeigt sie. Geldstrafe von 2400 Euro.
Raserei Ein gefährliches Rennen liefern sich im Juli 2011 zwei Männer auf der A2 bei Mooskirchen. 228 km/h misst die Exekutive. Der eine hatte Frau und Kind im Auto.
Kommentare