Beichte des NS-Arztes

Interview KURIER 8. 2. 1979: Dr. Gross über Vergangenes

Der KURIER deckte auf, dass Österreichs bekanntester Gerichtsgutachter Dr. Heinrich Gross, als Arzt an der Wiener NS-Mörderklinik „Am Spiegelgrund“ tätig war. Als der Wiener Mediziner Dr. Werner Vogt nun öffentlich feststellte, Gross wäre „an der Tötung hunderter geisteskranker Kinder beteiligt“ gewesen, erhob der Betroffene Klage. Lesen Sie, was Primarius Gross heute zu seiner üblen Vergangenheit zu sagen hat.

„Nach Ihrer Berichterstattung über meine Verfehlungen habe ich lange nachgedacht, und ich will gerne zugeben: Wie viele Menschen, die während der Nazizeit politisch aktiv waren, empfinde ich so etwas wie ein kollektives Schuldgefühl. Ich würde heute gegen die Verbrechen vorgehen, die ich damals untätig mitangesehen habe. Und müsste ich nun als Gerichtsgutachter Primarius Gross über die Handlungsweise des jungen Arztes Heinrich Gross während des Krieges urteilen, so würde ich mich selber anzeigen.

Nur darf man meine Tätigkeit damals nicht isoliert betrachten: Ich kam gleich nach der Promotion im Jahre 1940 an die Heil- und Pflegeanstalt Ybbs. Dort habe ich zum ersten Mal gesehen, wie psychisch kranke Menschen verschickt wurden. Mir gaben die Umstände, wie das geschah, zu denken. Aber in meinem Irrglauben habe ich gesagt: Das gibt es doch nicht, das kann eine Regierung doch nicht machen, so etwas geht doch nicht.

Ich habe dann um meine Versetzung nach Wien gebeten, weil doch kein junger Arzt in Ybbs versauern will, und kam an die Wiener Städtische Nervenklinik für Kinder („Am Spiegelgrund“).

Der Leiter der Anstalt, ein ambitionierter Nationalsozialist, hat mir dann eines Tages gesagt: Sie hörn’s, da gibt es einen Befehl. Schwer missgebildete und idiotische Kinder bis zum Alter von drei Jahren sind durch Luminal oder ein anderes Schlafmittel zu töten. Später hat sich herausgestellt, es war gar kein Befehl, sondern eine Ermächtigung. Ich war nie ein Fanatiker, und daher war auch meine Einstellung zu diesen Morden negativ. Aber man muss dazu sagen, dass zu dieser Zeit die Tendenz in der gesamten Psychiatrie eben lebensfeindlich war. Namhafte Ärzte und Rechtsgelehrte haben Bücher geschrieben über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, und ich war sicher in dieser Richtung beeinflusst.

Soviel ich weiß, wurde niemand tot gespritzt. Die Schwestern haben den Kindern das Gift ins Essen gemischt, und die sind dann einfach eingeschlafen. Ich habe natürlich auch Luminal verordnet, das war damals das einzige Beruhigungsmittel, das es gegeben hat. Und das war später mein Verhängnis. Eine Krankenschwester hat mich vor Gericht beschuldigt, ich hätte sie zum Totschlag angestiftet. Aber auch sie musste richtig stellen, dass sie schließlich nicht genau wusste, ob eine von mir verordnete Dosis Luminal zum Tod eines Patienten geführt hat.

Richtig ist, dass ich die Namen der Kinder, die schwer missgebildet waren, in Berlin gemeldet habe. Von dort kam dann die Order zum Mord. Da hat es Formulare gegeben, wo „Meldung“ draufstand. Vorgedruckt waren: Name, Geburtsdatum, Diagnose. Anzuhaken waren: schwere Missbildungen, schwerer Schwachsinn, wann hat das Kind gehen und essen gelernt, hat es Anfälle usw. Das musste alles ausgefüllt werden. Aber das haben nicht nur wir, sondern auch alle Gesundheitsämter getan.

 

Ich habe heute einen viel größeren Abstand zu den Dingen und sehe ein, dass ich zu einem Vorgesetzten gehen und sagen hätte sollen: Burschen, das ist ja Wahnsinn, was da gemacht wird. Wir sind doch nicht Frankensteins Nachfolger. Aber man muss verstehen, dass das nationalsozialistische Gewaltregime mit keinem heutigen System vergleichbar ist. Man hat doch ständig in der Angst gelebt, die Konsequenzen ziehen zu müssen. Und mit den Vorgesetzten konnte ich schon gar nicht reden – die waren offensichtlich für die Tötung der Kinder.

Ich habe da ein Jahr zugesehen und dann die Konsequenzen gezogen: Obwohl ich nie an die Front wollte, habe ich mich im Herbst 1941 zur Wehrmacht gemeldet und wurde im März 1942 eingezogen.

Ein paar Monate späte kam ich wieder an den „Spiegelgrund“, weil einfach Ärztemangel herrschte. Da war inzwischen ein neuer Ordinarius, der aber genauso wie sein Vorgänger agierte. So bin ich wieder an die Front, wurde verwundet und kam erst im Jahre 1948 aus der russischen Gefangenschaft zurück. Mit meinem heutigen Intellekt kann ich sagen: Ich würde mich nun anders verhalten, ich würde nicht mehr bei Morden zusehen und die nötige Hilfestellung unterlassen. Ich würde mit den Verantwortlichen reden. Juristisch ist mir nichts vorzuwerfen, ich wurde in einem ordentlichen Verfahren freigesprochen. Über meine moralische Qualifikation als Gerichtsgutachter zu urteilen, steht jedem frei.“

 

Mehr zum Thema

  • Hauptartikel

  • Interview

  • Kommentar

  • Hintergrund

  • Hintergrund

  • Bilder

  • Hintergrund

Kommentare