Zaghafte Rückkehr: "Es gibt keine Arbeit, nur Krieg"

Shingal, ein Trümmerfeld - 30 Familien sind in die Stadt zurückgekehrt.
15 Monate hat der IS die Stadt beherrscht. Heute ist sie ein Trümmerfeld. Nur langsam kommen Zivilisten zurück – und das vor allem aus Mangel an Alternativen.

Jamal und Naam sitzen in ihrem Haus und erzählen von der Vergangenheit. Als ihre Kinder über den Hof gelaufen sind. Sieben waren es insgesamt an der Zahl. Wie sie das Haus, das sie sich bitter abgespart haben, gebaut haben – 24 Jahre lang. Jamal erzählt, wie er als Taxifahrer in dieser Stadt gearbeitet hat, die heute in Trümmern liegt. Er redet, seine Frau Naam, mit der er seit 36 Jahren verheiratet ist, spricht dazwischen. Er lächelt. Sie lächelt. Sie sehen einander an. Sie erzählen Anekdoten aus einer anderen Epoche. Bevor der IS hierher nach Shingal kam. Sie erzählen von diesen Tagen: Als der IS kam, ihre jüngste Tochter, noch ein Baby, das starb, weil sie keine medizinische Hilfe bekam. Davon, wie sie in die Berge geflohen sind, wie Kinder neben ihnen verdursteten und Alte starben. Naams Augen werden feucht, ihre Stimme wird brüchig, ihre Lippen zittern. Beide verstummen, den Blick starr auf die Teegläser am Boden vor ihnen.

Zaghafte Rückkehr: "Es gibt keine Arbeit, nur Krieg"
15 Monate hatte der IS Shingal kontrolliert. Einhergegangen war der Einmarsch der Islamisten mit einem geplanten und minutiös ausgeführten Massenmord sowie der Verschleppung Tausender Jesiden, Tausender Mädchen, die massenvergewaltigt und auf Sklavenmärkten auf IS-Gebiet verschachert wurden. Wer fliehen konnte, lief in das Bergmassiv, an dem die Stadt liegt. Belagert, ohne Wasser, ohne Nahrung. Jamal und Naam gingen mit ihren Kindern in die Stadt Duhok, nachdem PKK-nahe Kräfte von Syrien kommend einen Korridor durch die Wüste im Norden des Shingal-Gebirges freigekämpft hatten.

Seit Ende November 2015 ist die Stadt wieder in der Hand der Peschmerga (den Einheiten der kurdischen Regionalregierung), Einheiten der syrischen PKK und jesidischer Milizen, die ebenfalls mit der PKK verbündet sind. Jamal und Naam kamen gleich danach. Ihre Kinder ließen sie in der Obhut des ältesten Sohnes in einem Flüchtlingslager nahe Duhok zurück. "Weil sie dort zur Schule gehen können." In Shingal gibt es keine Schulen. Es gibt auch kein Spital. Und internationale Hilfsorganisationen halten sich angesichts der anhaltenden Kämpfe in der Nähe von der Stadt noch fern. Shingal steht unter Militärverwaltung. Naam und Jamal aber wollten ihr Haus schützen, wie sie sagen. Sie fanden es geplündert vor. Aber intakt. Und sie blieben.

Heute leben laut der Schätzung eines Beamten in der Stadtverwaltung 30 Familien in dieser Stadt, die einst Heimat von rund 100.000 Menschen war. Der Anreiz zu kommen, ist gering. Die Front zwischen den kurdischen Kräften und dem IS liegt wenige Kilometer vor Shingal, die Stadt liegt in Trümmern. Selbst wenn Menschen zurückkommen wollen – sehr viele Häuser sind vermint. Jeden Tag werden Sprengfallen gefunden, die der IS zurückgelassen hat.

Verschanzt

Der IS hatte sich in Shingal verschanzt. Zudem wurde in Teilen der Stadt mehr als ein Jahr von Haus zu Haus gekämpft. Erst eine aus der Luft unterstütze Offensive brachte den Erfolg.

Das Resultat: Shingal ist heute eine Geisterstadt. Unter Trümmern liegen noch immer Tote. Das verrät der Geruch in einigen Gassen. In einem Haus liegen die Leichen getöteter IS-Kämpfer. Männer aus der Stadt, die sich dem IS angeschlossen hatten, heißt es. Bisher hat sich niemand gefunden, der es ihnen vergönnt, unter der Erde zu liegen. "Diese Tiere", sagt ein junger Mann. Und so verwesen die beiden Toten einfach in den Trümmern einer Ruine – während nach und nach überall um die Stadt Massengräber aus der Zeit auftauchen, als der IS hier wütete. Mindestens 31 sind es in der Region – mit jeweils 30 bis 70 Toten. Alleine um Shingal wurden rund ein Dutzend gefunden. Die Opfer: Jesiden, die der IS nach der Einnahme der Stadt zusammengetrieben, selektiert und erschossen hatte.

Jamal sagt: "Wir sind gute Menschen, wir haben niemandem etwas getan." Und er sagt: "Das waren unsere Nachbarn, die über uns hergefallen sind." Naam schüttelt den Kopf. Einige Häuser weiter steht ein leeres Haus. Nahezu unbeschädigt. Hier haben Araber gelebt. Die sind nicht mehr hier. Die hätten sich alle dem IS angeschlossen. Heute wieder neben ihnen zu leben, das sei unmöglich. "Undenkbar", sagt Jamal. Naam schüttelt wieder nur den Kopf.

Zaghafte Rückkehr: "Es gibt keine Arbeit, nur Krieg"
Sinjar, Irak,
Am anderen Ende der Stadt, am Ende der Straße zum alten Markt, steht Türki in seinem Laden. Ein Hort der Ordnung inmitten völliger Verwüstung. Er ist der einzige, der in dem einstigen Geschäftsviertel geöffnet hat. Der Laden rechts nebenan war wohl ein Kleiderladen. Der Laden links daneben ist nicht mehr auszumachen. Das Geschäft läuft gut, sagt Türki, nimmt kleine Plastiksäckchen, öffnet sie, indem er sie auseinander bläst und füllt mit der Hand Nüsse ein. Vor einem Monat hat er wieder eröffnet. Aber auch er hat seine Familie im Lager gelassen. Zu gefährlich. Zu viele Granaten. Zu viele Raketen. In der Ferne grollt es.

Nur eine Handvoll Läden haben in der Stadt geöffnet. Und die machen das meiste Geschäft mit den hier stationierten Soldaten. Denn von denen, die zurückgekehrt sind, hat niemand Geld. Im Idealfall gibt es einen Verwandten, der dann und wann etwas schickt. Andere haben einen Verwandten bei den Peschmerga. "Es gibt keine Arbeit, nur Krieg", sagt ein Mann. Die, die auf sich gestellt sind, durchsuchen den Schutt nach Brauchbarem. In einem zerbombten Laden durchwühlt ein Mann mit seinem Sohn Trümmer. Eine gefährliche Tätigkeit, angesichts der vielen Sprengfallen und nicht explodierten Munition. "Wir brauchen Kleidung für die Kinder", sagt er nur rasch und verschwindet. Wieder grollt es.

Die Front ist allgegenwärtig. Sie verläuft in den Außenbezirken. Sie ist ein Strich, ein Erdwall in einem überwucherten Feld vor der Stadt. Die Dörfer dahinter sind in der Hand des IS. Immer wieder sind Explosionen und Maschinengewehrfeuer zu hören. Und immer wieder feuert der IS auch in die Stadt selbst.

"Nach Europa"

Zaghafte Rückkehr: "Es gibt keine Arbeit, nur Krieg"
Sinjar, Irak,
Jamal sagt: "Wohin hätten wir gehen sollen?" Sie wollten zurück in ihr Haus. In ihre Stadt. Die Stadt, in der ihre Kinder aufwuchsen. Wo sie durch jene Straßen rannten, die heute nur mehr Schutt sind. Es ist eine Stadt, die heute bestenfalls noch ein Schatten einst blühenden Lebens ist. Mehr eine offene, klaffende Wunde als eine rissige Narbe. Aber: "In Duhok gibt es keine Arbeit, hier gibt es keine Arbeit – dort aber bin ich ein Fremder, hier bin ich daheim, das ist meine Heimat", sagt Jamal. Naam nickt. An die Explosionen haben sie sich gewöhnt. In den Läden lassen sie anschreiben. Naam macht sich bereits Sorgen wegen der Schulden. "Wenn es besser wird, werden wir bleiben, wenn es so bleibt, werden wir gehen", sagt sie. Jamal nickt. Und nach einer Pause sagt er: "Nach Europa."

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