Zu Besuch in Washington: So beeindruckte Selenskij die USA
Er hatte noch kein einziges Wort gesagt, da ging schon ein Orkan von frenetischem Beifall und Respektsbezeugungen los. Wie unaufgeregt der ukrainische Präsident Wolodomir Selenskij die Empathie-Welle bei seiner ersten Rede vor beiden Kammern des amerikanischen Parlaments seit Kriegsbeginn am Mittwochabend in Washington wegsteckte, nötigte selbst den ausgeschlafensten Abgeordneten Bewunderung ab. „Einer der kraftvollsten Beiträge, die ich hier jemals gehört habe”, sagten republikanische wie demokratische Abgeordnete, als Selenskij bereits auf der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen exekutierten Heimreise war.
"Alive and kicking"
Immer wieder holte der frühere Komödiant mit akademischem Jura-Hintergrund das Publikum im Saal wie an den Fernsehgeräten sprachlich und historisch da ab, wo Amerikaner sich komfortabel fühlen.
Alle „Untergangszenarien”, dass die Ukraine „schnell fallen wird”, hätten sich - auch dank massiver militärischer Hilfe Washingtons - als falsch erwiesen, sagte der Präsident. „Die Ukraine ist gesund und munter” - im Original: „alive and kicking”.
Wieder waren dem Gast aus Osteuropa Ovationen im Stehen sicher, denen sich nur ein paar wenige republikanische Irrläufer wie die Waffen-Närrin Lauren Boebert durch Sitzenbleiben verweigerten.
Aber auch für ihresgleichen, die ein Zuviel an teurer Militärhilfe (perspektivisch werden es bald 100 Milliarden US-Dollar sein) für Kiew beklagen, hatte Selenskij, der wie zuvor im Weißen Haus in olivfarbener Armee-Kleidung auftrat, passende Worte parat. „Ihr Geld ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Es ist eine Investition in die globale Sicherheit und die Demokratie, mit der wir höchst verantwortungsvoll umgehen."
Mit anderen Worten: Das zurzeit in den Haushaltsberatungen steckende 45 Milliarden-Dollar-Hilfspaket, das die Biden-Regierung vor dem republikanischen Machtwechsel im Repräsentantenhaus im Jänner unbedingt unter Dach und Fach bringen will, ist aus Sicht Selenskijs gut angelegtes Geld.
"Sie können unseren Sieg beschleunigen”
Denn: „Sie können unseren Sieg beschleunigen”, rief er den Abgeordneten zu - und sozusagen nebenbei die Welt retten. Denn wenn Russland in der Ukraine nicht zwingend geschlagen wird, werde der Kreml nach seiner Lesart die Expanionsgelüste andernorts weitertreiben.
Selenskij schmeckte sein rhetorisches Bittgesuch, in den Anstrengungen gegen Russland und bei den Waffen-Lieferungen nur ja nicht nachzulassen, betont eigenverantwortlich ab.
Weihnachten im Dunkeln
So sei es klar, dass viele seiner Landsleute an Heiligabend im Dunkeln sitzen werden, weil der Kreml nun mal bevorzugt Energie-Netze bombardieren lasse. Aber: „Wir beschweren uns nicht. Wir werden Weihnachten feiern, selbst dann, wenn es keinen Strom gibt. Das Licht in unserem Glauben und in uns selbst wird nicht erlöschen.”
Auch eine andere diffuse Urangst, die Amerika plagt, wurde von ihm adressiert: „Die Ukraine hat die amerikanischen Soldaten nie gebeten, an unserer Stelle in unserem Land zu kämpfen. Ich versichere Ihnen, dass ukrainische Soldaten amerikanische Panzer und Flugzeuge perfekt selbst bedienen können.” Heißt: Gebt uns endlich das nötige Material, nutzen tun wir es eigenständig.
Selenskijs emotionales Mitbringsel
Zu den machtvollsten Gesten des Abends kam es am Ende, als der Präsident von einer von Soldaten im umkämpften Bachmut im Donbass unterschriebenen National-Flagge berichtete, die er als Zeichen der Dankbarkeit seines Volkes mit in die Herzkammer der US-Demokratie gebracht habe.
Einen bewegenden Moment später hielten Vize-US-Präsidentin Kamala Harris und Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, das gelb-blaue National-Symbol stolz in ihren Händen. Selenskij wurde im Umkehrschluss mit einer US-Flagge beschenkt, die am Tag seines Besuches über dem Kapitol wehte.
Hilfe sei für Sieg notwendig
Mehr als einmal wies Selenskij auf die militärischen Realitäten hin. „Unterstützung aus Amerika ist nicht nur entscheidend, um in so einem Kampf bestehen zu können, sondern um zum Wendepunkt zu gelangen - um zu gewinnen.” Und ein Sieg, nichts als ein Sieg, sei das, was das ukrainische Volk derzeit wolle.
Eine unmissverständliche Spitze ließ Selenskij gegen die iranisch-russische Liäson los, die Kremlchef Wladimir Putin vor allem Drohnen aus Teheran beschafft. Wenn man sich nicht bald dagegen zur Wehr setze, dass hier „Terroristen Terroristen gefunden haben”, werde das Mullah-Regime Alliierte der USA im Nahen Osten angreifen, prophezeite der ukrainische Präsident.
Rhetorik-Talent
Viele seiner Sätze wirkten, als seien sie eigens konzipiert worden, um amerikanischem Publikum `runterzugehen wie Öl. Etwa: „Die russische Tyrannei hat die Kontrolle über die Ukraine verloren.” Oder: „Dieser Kampf wird darüber entscheiden, in welcher Welt unsere Kinder und Enkelkinder und deren Kinder und Enkelkinder leben werden.”
Für den Schluss hatte sich der Gast aus Kiew, der durchweg eindrucksvolles Englisch sprach, eine hochgejazzte Floskel aufbewahrt: „Frohes siegreiches neues Jahr!”.
Kommentare