Ein Brief wie ein Messerstich
Sie schließt das Haustor wie ein Roboter – jeden Morgen, jeden Abend. Mechanisch geht sie dann die staubige Straße hinunter vorbei an Häuschen, der Dorfbar mit dem kleinen Laden nebenan, dann rechts, bis zum Ende des Dorfes, dann nach links übers Feld, vorbei an der Kirche, vorbei an den Datschen, den Wochenendhäuschen der Leute aus der nahen Stadt Nowowolynsk, wo junge Burschen johlen und junge Frauen kreischen, bis zum Friedhof, wo ihr Sohn liegt. Jeden Morgen geht sie diesen Weg. Jeden Abend. Schweigend. Den Blick gesenkt. Wie ein Geist. Wenn sie so vorbeizieht, tritt Schweigen ein.
Aus dem kleinen Dorf war ihr Sohn in den Osten gezogen. In jenen Krieg, der sich im Westen der Ukraine nur dann bemerkbar macht, wenn Begräbniszüge durch Städte und Orte rollen, wenn Mütter in Trauer über ihre toten Kinder versinken oder Väter ihren Schmerz in Schnaps ertränken. Wenn tote Burschen begraben werden, deren Särge bei der Zeremonie nicht geöffnet werden, wie es an sich üblich ist.
Volodymir Yaakobchuk war einer der ersten dieser Burschen. In einem Truppentransporter war er umgekommen, nachdem Separatisten am 17. Juni seinen Konvoi angegriffen und ein Dutzend Soldaten getötet hatten. Es war der erste schwere Angriff dieser Art und einer der bis dahin blutigsten Tage für die Armee in der Ostukraine. Aber er sollte nur den Auftakt zu noch mehr Leid markieren.
Nach dem Kampf drehten die Angreifer einen kurzen Film; posieren neben Leichen mit abgetrennten Gliedmaßen, herausgerissenen Gedärmen oder zerdrückten Schädeln, lachen über einen würgenden Kameraden, posieren vor ausgebrannten Fahrzeugen – die Daumen in Siegerpose grinsend nach oben. Einer von ihnen ist Wladislaw Mazkewitsch, seinem Profil auf sozialen Medien zufolge Ex-Polizist und Angestellter einer Sicherheitsfirma. Am 17. Juni prahlt er im Internet mit dem Angriff. Aus Volodymirs Uniform entnehmen die Kämpfer Dokumente – und schickten einen Brief. An Natalia, Volodymyrs Mutter.
"Wir haben ihn erschossen, weil er in unser Land eingedrungen ist", steht da nebst Tiraden gegen die Regierung in Kiew, die "faschistische Junta", die ihre Armee abziehen müsse. Im Kuvert stecken Volodymirs Pass und Fotos seiner zwei Kinder. Ein Brief wie ein Messerstich.
Für Volodymir war es ein pragmatischer Entschluss gewesen, in den Osten zu gehen. Sein jüngerer Bruder hat ein Nierenleiden, braucht eine Transplantation. Das Geld dafür wollte er an der Front verdienen. Daraus wurde nichts. Nachbarn haben jetzt versucht, Geld zu sammeln – einige Tausend Dollar wurden es, eine riesige Summe für eine Region, in der 200 Dollar ein Top-Gehalt sind und viele Menschen von den Erträgen ihrer eigenen Mini-Landwirtschaften leben. Aber auch das reicht nicht für die nötige Operation.
Um die 50 Burschen aus dem kleinen Ort sind in der Ostukraine im Einsatz, sagt eine Lokalpolitikerin. Natalia ist bisher die einzige Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Ein anderer Bursche wurde verletzt. Um eine kleine Entschädigung der Armee ausbezahlt zu bekommen, musste er einem Beamten die Hälfte als Schmiergeld abgeben.
Es hat sich nicht viel geändert in der Ukraine. Nur haben sich Angst und Wut zur Resignation dazu gemischt. Während in einem kleinen Dorf in der Westukraine ein Vater seit dem Tod seines Buben nicht mehr aus dem Alkoholkoma kommt, eine Mutter schweigend täglich Blumen an das Grab ihres Kindes trägt, während die Nieren ihres jüngeren Sohnes versagen – weil es ein Gesundheitssystem nur theoretisch gibt und Ärzte wie selbstverständlich für eine Niere mehr verlangen, als ein Dorf mit aller Mühe zusammenkratzen kann.
Die ukrainischen Streitkräfte scheinen entschlossen zu sein, die Millionenstadt Donezk im Sturm nehmen zu wollen. Die Stadt ist seit einigen Tagen praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, die Versorgung mit Gas, Wasser und Lebensmitteln stockt. Tausende Menschen haben die Stadt über einen humanitären Korridor verlassen, viele sind jedoch geblieben. In der Nacht auf Mittwoch flog die ukrainische Luftwaffe einen ersten Angriff auf ein Ziel im Zentrum der Metropole.
Außenbezirke wurden mit Artilleriegranaten beschossen. Dabei sollen mindestens drei Zivilisten getötet worden sein. Medienberichten zufolge kämpfen Einheiten der Nationalgarde dabei an vorderster Front – eine fragwürdige Entscheidung, da gerade diese Einheiten bei der Zivilbevölkerung gefürchtet sind. "Der Angriff ist noch nicht im Gang, aber wir bereiten die Befreiung von Donezk vor", so Andrej Lyssenko vom Nationalen Sicherheitsrat in Kiew. Eine massive Offensive sei geplant. Die Armeeführung dementierte das.
Zu der Gewalt kommt nun auch immer mehr massive humanitäre Not: Vor allem die Stadt Lugansk ist von jeglicher Versorgung durch Nahrung, Wasser oder Gas abgeschnitten. Das UN-Nothilfebüro sprach von 3,9 Millionen Menschen, die "in einer von Gewalt heimgesuchten Region leben".
Nun wächst erneut die Sorge vor einem direkten Eingreifen Russlands. Polen, die USA und nun auch die NATO befürchten, dass Russland einen Einsatz von Truppen unter dem Deckmantel einer Friedensmission plant. In Russland sollen an der Grenze Armeefahrzeuge mit der Kennung von Friedenstruppen gesichtet worden sein.
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