Als Erdogan sogar zu beten vergaß

Entsetzen bei den Anhängern von Erdogans AKP: Mit dem Spitzenkandidaten der Regierungspartei, Premier Ahmet Davutoglu, blieb die AKP weit hinter ihren Erwartungen.
Verlust der "Absoluten" seiner AK-Regierungspartei traf den abgetauchten Präsidenten sehr.

Wie zu einer Beerdigung versammelt sich die Führungsriege der türkischen Regierungspartei AKP am späten Sonntagabend auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara, vor dem ihre ratlose Anhängerschaft wartet. Traurige Mienen in grauen Anzügen reihen sich auf der Empore aneinander, kraftlos winken die Parteioberen dem Fußvolk zu. Manche der AKP-Granden blicken einander betreten an. Selbst der sonst stets lächelnde Regierungssprecher Bülent Arinc sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen.

Kein Funke sprang über

Auf dem Balkon müht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit einer Rede ab, in der er so tut, als habe seine Partei einen strahlenden Sieg errungen. Dabei hat die AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren und einer unvergleichlichen Siegesserie unerwartet die Regierungsmehrheit verloren. Schon in guten Zeiten ist Davutoglu kein mitreißender Redner. Jetzt springt überhaupt kein Funke mehr über. Die Menge der AKP-Aktivisten vor dem Gebäude jauchzt nur ein einziges Mal auf – als Davutoglu den Namen Recep Tayyip Erdogan erwähnt.

Doch Erdogan fehlt auf dem Balkon, und er ist auch sonst nirgendwo zu sehen. Der Präsident, der im Wahlkampf allgegenwärtig war, ist abgetaucht. Von ihm, der sonst keinen Tag vergehen lässt, ohne die politischen Gegner als Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter und Terroristenhelfer zu verunglimpfen, ist plötzlich kein Wort mehr zu hören. Erdogan ist verstummt, und in der AKP fühlen sich viele plötzlich sehr allein.

Erdogan wohl auch. Mehr als 40 Prozent Stimmen für eine Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt regiert, ist eigentlich ein stolzes Ergebnis. Zur Niederlage wurde das Resultat durch die völlig überzogenen Ziele, die Erdogan der AKP gesetzt hatte.

Als Erdogan sogar zu beten vergaß
Eine überwältigende Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte Erdogan für die Regierungspartei gefordert, um damit Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Die "Neue Türkei" brauche einen starken Mann an der Spitze, lautete sein Argument, mit dem er im Wahlkampf für die AKP auftrat – obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt. Der 61-Jährige kümmerte sich nicht darum, er glaubte sich einem großen Ziel sehr nahe. Dann kam der Wahltag. Die AKP stürzte ab und wurde im Parlament auf 258 Abgeordnete zurückgestutzt. Erdogans Traum zerplatzte.Schockstarre Wie der Präsident reagierte, als er das Ausmaß des Debakels begriff, berichtete ein normalerweise sehr gut informierter Informant auf Twitter. Unter dem Pseudonym "Fuat Avni" prophezeit ein zum Erdogan-Gegner gewordenes Mitglied des engeren Zirkels um den Präsidenten immer wieder präzise bevorstehende Polizeiaktionen gegen Regierungskritiker und andere Details. Über Erdogans Reaktion auf den Wahlausgang schrieb "Fuat Avni", der Präsident sei in Schockstarre wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben. Sogar die vorgeschriebenen Gebetszeiten habe der fromme Muslim vergessen. Noch in der Nacht begann die von Korruptionsskandalen umwitterte Regierung laut "Fuat Avni" mit der Vernichtung inkriminierender Dokumente.

Am Tag danach traut sich Erdogan immer noch nicht wirklich unter die Leute, wirkt verhalten. In Ankara beginnt die schwierige Suche nach einer einigermaßen stabilen Regierungskoalition, in Istanbul schmiert die Börse ab, der Lira-Kurs rutscht in den Keller. Das Präsidialamt lässt in einer dürren schriftlichen Mitteilung erklären, der "Ratschluss der Nation" stehe über allem. Immerhin, sagen einige von Erdogans Gegnern: Der Präsident nimmt das Wahlergebnis an.

Kommentare