Neue linke Galionsfigur: Heidi Reichinnek, die Anti-Wagenknecht

Neue linke Galionsfigur: Heidi Reichinnek, die Anti-Wagenknecht
Der Shootingstar der Linken sprach Jungwählerinnen an und entstaubte die Partei vom nostalgischen PDS-Image – allerdings nur oberflächlich.

Über 30 Millionen Mal wurde ihre energische Wut-Rede gegen Unionschef Friedrich Merz nach der umstrittenen Abstimmung im Bundestag mit der AfD im Netz geklickt. "Aller politischen Differenzen zum Trotz hätte ich mir niemals vorstellen können, dass eine christlich-demokratische Partei mit Rechtsextremen paktiert", schleudert Heidi Reichinnek Merz mit ausgestrecktem Zeigefinger entgegen. Echten Antifaschismus gebe es nur mit der Linken, so die Botschaft. "Auf die Barrikaden!", ruft sie. Dafür holte sie sich eine Mahnung der Bundestagspräsidentin ein.

Diese Rede wird als Zündung der Aufholjagd der Linken im Wahlkampf gesehen, die die abgeschrieben Partei zu neun Prozent geführt hat. Reichinnek wurde zur Stimmenfängerin der linken Jungwähler – und vor allem Jungwählerinnen.

Jung, weiblich, urban

35 Prozent der unter 35-jährigen Frauen in Städten wählten die Linke. Kurz vor der Wahl meldete die Partei einen Mitgliederrekord von über 81.000 – knapp zwei Drittel seien Frauen unter 30, so die Partei. Die 36-jährige Spitzenkandidatin scheint vor allem für diese junge, urbane Generation von Frauen Projektionsfläche zu sein: nicht länger zurückhaltend, laut, kämpferisch. Am Handgelenk trägt sie von Fans gebastelte Freundschaftsbändchen à la Taylor Swift; auf dem – linken – Unterarm hat sie die Rosa Luxemburg tätowiert, die marxistische Leitfigur der Linken.

Neue linke Galionsfigur: Heidi Reichinnek, die Anti-Wagenknecht

Lauter Jubel bei der Linken am Wahlabend: Heidi Reichinnek zwischen Parteichefin Ines Schwerdtner und Co-Spitzenkandidat Jan van Aken.

Geboren im ostdeutschen Sachsen-Anhalt, trat Reichinnek mit 27 Jahren der Linkspartei bei. Sie studierte Politikwissenschaften und Nahoststudien, engagierte sich während der Flüchtlingskrise. 2021 zog sie in den Bundestag ein, als jüngste linke Abgeordnete.

Schützenhilfe soll sie von Partei-Urgestein Dietmar Bartsch bekommen haben. Er war Teil der "Mission Silberlocke", einem Dreiergespann aus "alten, weißen Männern", das der Partei  bei den nostalgischen PDS-Wählern in Ostdeutschland die notwendigen Direktmandate besorgen sollte, um die Fünf-Prozent-Hürde für den Bundestag zu umgehen. Das war vor Reichinneks Erfolg in den sozialen Medien. "Wenn es drei ältere Herren braucht, um es mit einer Frau aufzunehmen, dann ist das doch schon mal ein gutes Zeichen", kontert Reichinnek später. In der Linken gilt sie als pragmatische Realistin, die versucht, die parteiinternen Grabenkämpfe auszusöhnen.

Man könnte auch sagen, sie ist die personifizierte Erneuerung, die die Linke nach dem Parteiaustritt Sahra Wagenknechts überraschenderweise doch geschafft hat. Emotional, spontan – das Foto des Wahlabends zeigt sie mit weit offenem Mund, vor Freude schreiend –, teilweise unfrisiert, in Jeans und weiten Kleidern im Bundestag, während bei Wagenknecht Kostüm und Frisur stets perfekt saßen, ihre Reden voraussagbar und einstudiert wirkten.

Inhaltlich Altlinks

Nur inhaltlich ist die Linke  ihren alten Zielen treu geblieben: Umverteilung, höhere Steuern für Konzerne, Preisdeckelung – und eine "diplomatische Lösung" mit Russland, keine Waffenlieferungen an die Ukraine, keine Auf-, ja sogar eine Abrüstung der Bundeswehr. Bewusst wurden diese Themen im Wahlkampf weniger bespielt als Soziales, weil es auch jungen Linkswählern schwergefallen ist, diese Meinung zu teilen. Dabei wird die Ukraine das Thema sein, bei dem die Linke ihre neugewonnene Macht im Bundestag am stärksten  nutzen wird: Zu einem neuen Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr "sagt die Linke klar nein", stellt Reichinnek nach der Wahl klar, zeigt sich hier sogar härter als die AfD.

Als die Fraktion nach der Wahl im Bundestag für ein Foto posiert, rufen die Abgeordneten: "Alerta, alerta, antifascista!", Reichinnek steht in der ersten Reihe. Es ist der antifaschistische Schlachtruf, den auch die linksradikale Antifa nutzt.

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