Viele Ägypter sehen keine Wahl

Viele Ägypter sehen keine Wahl
Ägypten: Ein Muslimbruder gegen einen Ex-Mubarak-Mann – vor der Präsidenten-Stichwahl macht sich tiefe Frustration breit.

Die Wahlplakate sind gigantisch: Ahmed Shafik, ehemaliger Luftwaffengeneral und letzter Premier unter Hosni Mubarak, trägt auf den Postern ein blaues Hemd mit weißen Streifen. Seine grauen Haare hat er zur Seite gekämmt. Eher überraschend hat es der 71-Jährige in die Stichwahl geschafft. Jetzt hängen seine Wahlplakate an den großen Straßen und an den Hochhäusern.

Am 16. und 17. Juni werden die Ägypter zwischen Shafik und Mohammed Mursi, Mitglied der Muslimbruderschaft und der konservativen Freiheits-und Gerechtigkeitspartei, entscheiden. Die Stimmung ist gedämpft in Kairo. Mursi und Shafik sind nicht die Politiker, die den Willen der Revolutionäre von 2011 widerspiegeln. Experten befürchten eine sehr geringe Wahlbeteiligung – und möglicherweise schon bald eine Welle neuer Proteste.

Der aalglatte Shafik ist für viele Ägypter ein "Felool", ein Angehöriger des alten Regimes. Der bärtige Mursi wiederum steht für einen konservativ-religiösen Staat. Viele halten beide für machtbesessen, korrupt, verlogen.

"Ich werde die Wahl boykottieren", sagt der junge Fotograf Beshoy Fayez, der die Aufstände in Ägypten dokumentiert hat. "Ich will nicht wie im Iran leben. Also wähle ich nicht Mursi. Das Militär will ich auch nicht. Deshalb gebe ich Shafik nicht meine Stimme", so der 26-Jährige. Fayez zählt zu vielen Ägyptern, die die Stichwahl auslassen werden.

Parallel zu diesem weit verbreiteten Desinteresse heizt sich die Stimmung zwischen den Kandidaten auf. In einer Fernsehsendung beschuldigte Shafik den Muslimbruder, für die Tötung von Demonstranten am 2. Februar 2011 beim sogenannten "Kampf der Kamele" mitverantwortlich gewesen zu sein. Damals hatten Reiter auf Kamelen und Pferden den Tahrir-Platz gestürmt und zahllose Demonstranten verletzt und getötet.

Doch als Shafik vergangenen Montag vor Gericht eine Zeugenaussage bezüglich des "Kampfs der Kamele" machen sollte, tauchte er nicht auf. Shafik war vom 31. Jänner bis 3. März 2011 Premier unter Hosni Mubarak. Die Muslimbruderschaft beschuldigt den ehemaligen Luftwaffengeneral, nichts gegen den Angriff auf die Demonstranten unternommen zu haben.

Shafik nimmt sich kein Blatt vor den Mund, um seinem Rivalen den Kampf anzusagen. Erst kürzlich behauptete er, mit den Islamisten würde Ägypten in ein "dunkles Zeitalter" gestürzt werden. Mit der Muslimbruderschaft komme Rückschritt und Dunkelheit, mit ihm würde Licht und Fortschritt erscheinen.

Mursi, ein eher farbloser Ingenieur und Vorsitzender der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, die als politischer Flügel der Muslimbruderschaft entstanden ist, fordert eine Kopfsteuer für alle Nicht-Muslime in Ägypten – die sogenannte Dschizya, eine Art Schutzsteuer, die Andersgläubige vor Angriffen bewahren soll. Mursi behauptet, er wolle alle Christen zu Muslimen machen. "Sie sollen wissen, dass der Sieg nahe ist und dass Ägypten islamisch wird." Sollte er Präsident werden, hätten die Muslimbrüder nach dem Parlament auch die zweite Säule der Macht unter ihrer Kontrolle.

Shafik verspricht seinen Wählern, er werde mit "brutaler Kraft" die Stabilität in Ägypten wiederherstellen – und das innerhalb eines Monats nach der Machtübernahme.

Die Furcht vor Shafik und dem früheren Regime ist unter den jungen Revolutionären enorm. Vergangenen Freitag demonstrierten sie gegen ihn auf dem Tahrir-Platz. Doch viele Ägypter sehnen sich andererseits nach der Sicherheit, die Shafik verspricht. Angst scheint auch Mursi zu verbreiten: "Ich werde um mein Leben fürchten, falls Shafik das Rennen nicht schafft", sagt eine Christin. Viele liberal Denkende erwägen, auszuwandern.

Es ist die erste Präsidentschaftswahl nach der Revolution in Ägypten – doch einen Freudentaumel löst sie nicht aus.

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