Venezuela: Fluchtwelle erschüttert Südamerika
Maria (30) will sich nicht wegschicken lassen. „Ich versuche nur, zu überleben“, ruft sie dem Polizisten in Bogotá zu. Die alleinerziehende Mutter verkauft Bonbons an die Passanten, für umgerechnet fünf Cent das Stück.
Maria kam wie so viele Zehntausende über den Landweg, überquerte die Grenzbrücke in Cucuta, wo es eine erste Hilfsstation der katholischen Kirche gibt. Rund 300 Venezolaner treffen nach einem Bericht des Radiosenders Caracol täglich neu in Bogotá ein. Sie sind inzwischen überall: die Venezolaner putzen Autoscheiben an den Ampeln, betteln in den Einkaufsstraßen, verkaufen Kleinigkeiten wie Plastiksackerl. Manche stehlen und begehen Überfälle.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass rund 2,4 Millionen der 31 Millionen Einwohner Venezuela verlassen haben, ein Gutteil davon in den vergangenen vier Jahren, und die Fluchtbewegung hält an. Die Gründe: Hunger, katastrophale medizinische Versorgung und Unterdrückung.
Doch nun bringt die Massenflucht die Stabilität der Nachbarstaaten ins Wanken. Sie erleben humanitäre Krisen, ausländerfeindliche Übergriffe, einige Regionen haben den Notstand ausgerufen und setzen das Militär ein. Sogar politische Bündnisse zerbrechen – und der Widerstand der lateinamerikanischen Staaten gegen die Diktatur in Caracas wächst.
Seit 2014
Der Massenexodus aus Venezuela begann, als Präsident Nicolas 2014 die Proteste gegen seine Regierung blutig niederschlagen und die wichtigsten Regierungsgegner verhafteten ließ. Zwei Jahre später stahl er der Opposition durch die Entmachtung des Parlaments den Wahlsieg.
Zuerst verließen die jungen, gebildeten Venezolaner das Land, mittlerweile fliehen alle, die Mittelschicht, die Armen, die Alten. Sie gehen nach Kolumbien, nach Brasilien, nach Peru und nach Ecuador.
Im Bundesstaat Roraima in Nordbrasilien attackierten die Einheimischen die venezolanischen Flüchtlinge, nachdem eine Gruppe von Migranten einen Einzelhändler überfallen haben soll. Inzwischen ist die Mordrate auf 27,7 pro 100.000 Menschen geradezu explodiert. Roraima, vor drei Jahren nicht einmal unter den Top Ten, ist damit inzwischen der gefährlichste Bundesstaat Brasiliens. Brasiliens Präsident Michel Temer entsandte das Militär in die Unruheregion, um die Ordnung wiederherzustellen.
Die betroffenen Länder reagieren auf die mangelnde Bereitschaft Venezuelas, die Fluchtursachen zu bekämpfen, mit diplomatischem Druck. Am lautesten protestiert Venezuelas direkter Nachbar Kolumbien.
„So lange die Diktatur in Caracas an der Macht bleibt, wird die Migration anhalten“, sagte Kolumbiens neuer Präsident Ivan Duque. Das Maduro-Regime lehnt freie, durch unabhängige internationale Beobachter kontrollierte Wahlen ab. Duque kündigte an, dass sich Kolumbien aus dem südamerikanischen Staatenbund Unasur zurückziehen werde, der nur dazu gedient habe, die venezolanische Diktatur zu stützen. Ecuador, einst ein treuer Verbündeter von Venezuela, will den Staatenbund Alba verlassen, ein Zusammenschluss weitgehend sozialistischer Länder, der ebenfalls von Chávez forciert wurde.
Keine Solidarität
Auf einem Flüchtlingsgipfel verständigten sich rund ein Dutzend lateinamerikanischer Länder auf eine erste vorsichtige Strategie. Sie fordern Hilfen von der internationalen Staatengemeinschaft. Mit Ausnahme von kirchlichen Organisationen und offiziellen Flüchtlingshilfswerken zum Beispiel der UNO gibt es kaum Solidarität mit den aufnehmenden konservativen Regierungen. Kaum NGO´s, keine Spendenaktionen wie in Europa. Im Gegenteil: Boliviens linker Präsident Evo Morales kritisierte sogar, dass die USA ein Hospitalschiff zur Versorgung der Flüchtlinge nach Kolumbien entsandten. Die USA, so Morales, bereiteten damit eine versteckte Invasion Venezuelas vor.
Die Exil-Venezolaner verfolgen die Lage gespannt. Viele wollen wieder zurückkehren, wenn die Diktatur Maduro einmal zu Ende ist. „Venezuela ist immer noch meine Heimat, im Moment ist sie die Geisel einer korrupten und skrupellosen Regierung. Nur wenn sich das ändert, gehe ich wieder zurück“, sagt Maria, die Bonbon-Verkäuferin in Bogotá.
von Tobias Käufer
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