Irak-Konflikt bringt Erzfeinde an einen Tisch

Freiwillige für die irakische Armee
USA und Iran wollen beraten - Außenminister Kerry schließt Drohnenangriffe nicht aus.

Die sunnitische Extremistengruppe Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIS) hält den Irak derzeit in Atem. Aber auch die USA und der Iran fürchten die Gruppierung.

Die Terrorgruppe hat vergangene Woche Teile im Norden des Iraks eingenommen und rückten anschließend in Richtung der Hauptstadt Bagdad vor. Experten schätzen ihre Stärke auf rund 10.000 Mann. Die nominell weitaus stärkere irakische Armee startete nach eigenen Angaben am Wochenende eine erfolgreiche Gegenoffensive. Ziel ist es vor allem, zusammen mit kurdischen Peshmerga-Truppen und Tausenden Freiwilligen die nördliche Millionenmetropole Mossul zurückzuerobern. Die jordanische Armee soll seine Truppenstärke an der Grenze zum Irak verdoppelt haben. Die Soldaten stünden unter "hoher Alarmbereitschaft", heißt es aus Sicherheitskreisen in Amman. Die Truppen seien verstärkt worden, nachdem sich irakische Truppen von Grenzposten zurückgezogen hätten.

Die von Schiiten dominierten Regierungen im Irak und Iran sehen die sunnitischen ISIS-Kämpfer, die einen streng muslimischen Gottesstaat errichten wollen, als hochgefährliche Gegner an - ebenso wie die USA, die eine Destabilisierung oder gar den Zerfall des Iraks befürchten.

Annäherung der USA an den Iran

Die Krise im Irak bringt zwei Erzfeinde näher zusammen: Washington will laut einem Zeitungsbericht direkte Gespräche mit Teheran führen. Das gemeinsame Ziel: die Jihadisten der ISIS/ISIL zu stoppen. Vertreter der beiden Staaten wollen sich in dieser Woche zu ersten Beratungen treffen, wie das Wall Street Journal unter Berufung auf US-Regierungsvertreter berichtete. Der iranische Präsident Hassan Rohani schloss am Samstag nicht aus, mit dem Erzfeind USA gegen die Jihadisten zu kooperieren.

Auch US-Außenminister John Kerry kann sich Gespräche mit dem Iran über die Krise im Irak vorstellen. "Ich würde nichts ausschließen, was konstruktiv sein könnte", sagte Kerry in einem am Montag veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenseite Yahoo News. Vorher müsse aber klar sein, "wozu der Iran bereit oder nicht bereit sein würde". Grundsätzlich befürworte die US-Regierung aber "jeden konstruktiven Prozess, der die Gewalt verringert, den Irak zusammenhält (...) und die Präsenz von ausländischen terroristischen Kräften beendet", ergänzte der US-Außenminister.

Drohnenangriffe möglich

Das Wall Street Journal berichtete, dass Vertreter Washingtons und Teherans sich angesichts des Vormarschs der Jihadistengruppe ISIS (ISIL) noch in dieser Woche zu ersten Beratungen treffen wollten. Noch sei aber unklar, über welche diplomatischen Kanäle der Austausch stattfinden werde. Das Weiße Haus wollte den Bericht weder bestätigen noch dementieren.

Kerry bekräftigte, dass Washington auch über Drohnenangriffe gegen ISIS nachdenke. US-Präsident Barack Obama prüfe "jede verfügbare Option", sagte der US-Außenminister. Obama hatte am Freitag den Einsatz von Bodentruppen im Irak ausgeschlossen, sich die Möglichkeit von Luftangriffen aber offen gelassen. Washington entsandte bereits den Flugzeugträger "USS George H.W. Bush" in den Golf.

Kämpfer der sunnitischen Extremistengruppe Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIS) haben mehrere Städte und Regionen im Norden des Irak erobert und rücken in Richtung der Hauptstadt Bagdad vor. "Das ist eine Herausforderung für die Stabilität der Region. Es ist offensichtlich eine existenzielle Herausforderung für den Irak selbst", sagte Kerry Yahoo News. Eine Einnahme der Hauptstadt durch ISIS hielt der Außenminister aber für wenig wahrscheinlich. "Ich glaube nicht, dass ihnen das in der nahen Zukunft gelingt", sagte er.

Auch die Briten haben in Sachen Irak Kontakt zum Iran aufgenommen: Der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif hat mit seinem britischen Amtskollegen William Hague am Montag die Irak-Krise telefonisch erörtert.

Diplomatischer Stillstand

Seit 35 Jahren, seit der Islamischem Revolution mit dem Sturz des Schahs, der eine strategische Partnerschaft mit den USA eingegangen war, der Geiselnahme von 52 US-Bürgern für 444 Tage 1979-1980 und der Erstürmung der US-Botschaft in Teheran, herrscht diplomatischer Stillstand zwischen dem Iran und den USA. In den vergangenen Jahren kam der Streit um das iranische Atomprogramm erschwerend dazu. Zuletzt gab es aber eine Annäherung.

Es sei noch unklar, über welche diplomatischen Kanäle der Austausch stattfinde, sagten US-Regierungsvertreter dem Wall Street Journal. Möglich wäre, dass die Atomverhandlungen in Wien als Forum für die Gespräche genutzt werden. In der Bundeshauptstadt kommen am Montag Vertreter des Iran und der 5+1-Gruppe der fünf UNO-Vetomächte und Deutschlands zusammen, um über eine endgültige Lösung zur Beilegung des jahrelangen Streits über das iranische Atomprogramm zu verhandeln. Wie das State Department mitteilte, wird die Nummer zwei der amerikanischen Diplomatie, Vize-Außenminister William Burns diese Woche nach Wien zu den Gesprächen kommen.

Keine Bodentruppen

Das Weiße Haus wollte den Zeitungsbericht weder bestätigen noch dementieren. Die USA verlegten angesichts des Jihadisten-Vormarsches bereits einen Flugzeugträger in den Golf. Eine Entsendung von Bodentruppen schloss US-Präsident Barack Obama aber aus.

Angesichts des Vormarschs der ISIL ziehen die USA einen Teil ihres Botschaftspersonals aus Bagdad ab. Die Mitarbeiter würden für eine begrenzte Zeit in die US-Konsulate in Basra und Erbil (Iribil) sowie in die jordanische Hauptstadt Amman versetzt, teilte das US-Außenministerium am Sonntag mit. Um wie viele Mitarbeiter es sich handelt, blieb zunächst offen.

Wegen der unruhigen Lage und der Gewalt in Teilen des Landes schicke Washington zudem zusätzliche Sicherheitskräfte zum Schutz der Botschaft nach Bagdad, sagte Außenamtssprecherin Jen Psaki. Die diplomatische Vertretung bleibe aber geöffnet. Die Maßnahme betreffe weniger als 100 Soldaten, ergänzte ein Regierungsvertreter.

Brisante Informationen

Wie die britische Zeitung The Guardian unterdessen berichtete, sind den irakischen Truppen mehr als 160 Speichersticks der Islamistenmiliz ISIL (Islamischer Staat im Irak und der Levante) mit hoch brisanten Informationen in die Hände gefallen. Darunter seien Namen und Kriegsnamen aller ausländischen ISIL-Kämpfer, von ISIL-Anführern, Codewörter, die Initialen von Informanten in Ministerien sowie die kompletten Finanzdaten der Organisation. "Wir waren alle verblüfft, und die Amerikaner auch", sagte ein Geheimdienstoffizier dem Blatt.

Seit der Eroberung der Großstadt Mossul verfüge ISIL über Milliardenwerte. "Vor Mossul betrugen ihr gesamtes Bargeld und Anlagen 875 Millionen Dollar", sagte der Informant. "Danach, mit dem Geld, das sie in Banken geraubt haben und dem Wert der militärischen Versorgungsgüter, die sie geplündert haben, konnten sie weitere 1,5 Milliarden Dollar dazu addieren." Das wären umgerechnet insgesamt 1,75 Milliarden Euro.

Auswertung im Gange

In den Besitz der Daten gelangten die irakischen Streitkräfte dem Bericht bereits vor dem Fall Mossuls. Zwei Tage vor der ISIL-Offensive habe ein Kurier des ISIL-Kommandanten Abdulrahman al-Bilawi im Dauerverhör den Namen seines Chefs gestanden. Wenige Stunden später sei Bilawi tot gewesen. In seinem Haus und bei seinem Kurier seien die Datenträger sichergestellt worden. Ihre Auswertung - unter anderem durch CIA-Agenten - sei noch im Gange.

Gefechte gehen weiter

Inzwischen liefern sich jihadistische Milizen und die irakische Armee in der Nähe der Hauptstadt Bagdad weiter heftige Gefechte. Wie am Montag aus Sicherheitskreisen verlautete, wurden dabei in der Region von Bakuba 23 Jihadisten getötet. Bakuba liegt rund 60 Kilometer nördlich von Bagdad. ISIS meldete auf Twitter, mehr als hundert irakische Soldaten in der Provinz Salaheddin nordwestlich von Bagdad getötet zu haben. Weitere 75 Menschen seien bei Selbstmordanschlägen in Bagdad getötet worden. Die Terrorgruppe habe zudem Hunderte Häftlinge aus einem Gefängnis in nordirakischen Stadt Tell Afar befreit. Eine unabhängige Bestätigung für diese Angaben gab es nicht. Tell Afar liegt zwischen der von ISIS kontrollierten Stadt Mossul und der syrischen Grenze.

In der Nacht zum Montag griffen ISIS-Kämpfer nach eigenen Angaben zudem den internationalen Flughafen von Bagdad an. Der Nachrichtensender Al-Arabiya berichtete am Montag, dass nach Auseinandersetzungen die Gegend um den Flughafen wieder unter Kontrolle der Regierungstruppen sei.

Die Terrorgruppe soll außerdem der kurdischen Armee am Sonntagabend einen Waffenstillstand angeboten haben. Die Jihadisten hätten einen Kurier zum kurdischen Stützpunkt bei Tus Churmatu im Ostirak geschickt, berichtete die kurdische Nachrichtenseite Rudaw am Montag. Demnach habe der Kurier angeboten: "Wenn Ihr uns nicht angreift, greifen auch wir nicht an."

Arabische Außenminister beraten über Krise

Die Außenminister der arabischen Staaten kommen außerdem am Mittwoch und am Donnerstag in Saudi-Arabien zusammen, um über den Vormarsch der Jihadisten zu beraten. Wie der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, am Montag in Kairo mitteilte, soll es bei dem Treffen in Jiddah um die "kritische Lage" im Irak und mögliche Gegenmaßnahmen gehen. Die Arabische Liga zeigte sich äußerst besorgt über die Zunahme der "Terroreinsätze" im Irak.

Zum Islam bekennen sich weltweit etwa 1,3 Milliarden Menschen. Rund 90 Prozent von ihnen sind Sunniten. Die Spaltung der Muslime in Schiiten und Sunniten begann im siebenten Jahrhundert mit einer Auseinandersetzung um die Nachfolge des Propheten Mohammed.

Der schiitische Islam akzeptiert nur einen direkten Nachkommen. Sie berufen sich auf Ali ibn Abi Talib, den Schwiegersohn Mohammeds und vierten Kalifen, als ersten legitimen Erben des Propheten. Die Sunniten wünschen sich als Nachfolger des Religionsstifters einen fähigen Heerführer aus Mohammeds Stamm, der durch einen Rat (Shura) bestätigt wird. Eine Erbfolge verlangen sie nicht.

Außer im Iran und Bahrein stellen die Schiiten auch im Irak die Bevölkerungsmehrheit. Bis zu 20 Millionen der gut 32 Millionen Iraker sind schiitische Muslime. Ihr Kernland liegt um ihre heiligen Stätten Najaf und Kerbala südlich der Hauptstadt Bagdad. Die irakischen Sunniten leben vor allem in Bagdad sowie in den Provinzen westlich und nördlich der Hauptstadt.

Hussein war Sunnit

Ex-Diktator Saddam Hussein, ein Sunnit, hatte die Schiiten diskriminiert. Nach seinem Sturz 2003 verloren die sunnitischen Stämme Macht und Einfluss. Nach dem US-Abzug 2011 entbrannte der Machtkampf zwischen Schiiten und Sunniten aufs Neue. In den vergangenen Monaten eskalierte der Streit zwischen der von Schiiten dominierten Regierung unter Nuri al-Maliki mit sunnitischen Parteien. Sunnitische Terrorgruppen wie der Islamische Staat im Irak und der Levante (ISIL/ISIS) kämpfen gegen Schiiten, die sie als "Abweichler" von der wahren Lehre des Islams ansehen.

Im Bürgerkrieg in Syrien, wo Sunniten zwei Drittel der Bevölkerung stellen, kämpft ISIL gegen die Truppen des Machthabers Bashar al-Assad. Im benachbarten Libanon sorgte in den vergangenen Jahren ein Machtkampf zwischen pro-syrischen Schiiten-Parteien sowie westlich orientierten Bewegungen der Sunniten und maronitischen Christen für zunehmende Instabilität. Libanons Sunniten unterstützen mehrheitlich die syrische Opposition. Die Schiiten-Miliz Hisbollah hingegen, die in Beirut in der Regierung sitzt, ist mit dem Assad-Regime verbündet.

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