Jede Treppenstufe ist wichtig
Dabei geht es weniger um die Wucht und Substanz seiner Reden - Biden spricht/sprach am Dienstagabend beim offiziellen Festakt zur Gründung der Nato im historischen Mellon Auditorium an der Constitution Avenue - als um das Optische.
Jede Treppenstufe, die Biden bevorsteht, jeder Fototermin, jeder live aufgeschnappte Satz von ihm wird von der sorgenvollen Frage begleitet sein, ob der älteste Präsident in der amerikanischen Geschichte noch auf der Höhe ist. „Sollte es bei Patzer und Pannen wie beim TV-Duell mit Trump geben, wäre das wohl der letzte Sargnagel für seine Kandidatur”, sagen Parteifreunde in Washington.
Im Umkehrschluss könne „ein führungsstarker Auftritt, der mentale und körperliche Kraft dokumentiert und Biden als unverzichtbare Schlüsselfigur des Westens zeigt, den Zweiflern etwas den Wind aus den Segeln nehmen”.
Kinderspital-Angriff im Zentrum
Ob Joe Biden hustet, stolpert oder sich verspricht, ob er den Faden verliert oder die Orientierung, wird bei den von morgens bis Abend getakteten Veranstaltungen im hermetisch eingezäunten Walter E. Washington-Kongress-Zentrum mit Handy-Kameras und Argusaugen beobachtet. Insider rechnen damit, dass aus den internen Runden der geladenen Staats- und Regierungschefs „fast in Echtzeit” durchsickern wird, welchen Eindruck Biden hinterlassen hat.
Der Umfang des Gipfels spielt Biden nicht unbedingt in die Hände. Der laut Regierungsmitarbeitern nur zwischen 10 und 16 Uhr vollbelastbare Staatsmann wird von früh bis spät eingespannt sein. Mehrstündige Sitzungen im Nord-Atlantik-Rat, bilaterale Gespräche mit den Top-Leuten der anderen Nato-Staaten über die Dauerbrenner China und Ukraine/Russland - der verheerende russische Angriff auf ein Kinderspital in Kiew mit Dutzenden Toten wird beim Gipfel jedenfalls Gesprächsthema sein.
Temperaturen von 35 Grad aufwärts
Dazu kommt das innenpolitische Rumoren jener Demokraten, die ihm an die Wäsche wollen - das Pensum könnte wie gemacht sein für erschöpfungsbedingte Aussetzer; zumal in Washington derzeit stabil Temperaturen von 35 Grad aufwärts herrschen.
Biden hatte im Nachgang zum TV-GAU kürzlich gegenüber demokratischen Gouverneuren ausgeplaudert, er müsse einfach mehr schlafen und darum abends nach 20 Uhr häufiger Termine absagen. Beim Nato-Gipfel funktioniert das nicht. „Als Gastgeber kann er keine der zentralen Runden auslassen”, sagt ein Gipfelteilnehmer der Europäischen Union. Schon am Mittwochabend obliegt dem Präsidenten im Beisein von First Lady Jill Biden beim Dinner im Weißen Haus für die die 32 Staats- und Regierungschefs das vornehme Recht auf Trinkspruch und Small-Talk.
„Biden unterzieht sich einer öffentlichen Bewährungsprobe, bei der die ganze Welt zuschaut”, sagt ein Analyst der Denkfabrik Cato, „wenn es gut geht, könnte er neue Kraft sammeln.”
Biden wäre erste Wahl - für fast alle
Für die allermeisten Akteure im Bündnis, Ungarns Viktor Orban ausgenommen, ist die Ausgangslage nach Einschätzung von EU-Diplomaten in Washington klar: Lieber eine zweite Amtszeit für Joe Biden, dem „Garanten für Stabilität, ohne den das Bündnis für die Ukraine und gegen Russland nie zustandekommen wäre”, als „noch mal vier Jahre Chaos und Zittern mit Donald Trump”.
Die Sorge vor der Rückkehr des impulsgesteuerten Rechtspopulisten, der schon in seiner ersten Amtszeit mit dem Austritt aus der Nato geliebäugelt hat, ist vier Monate vor der Präsidentschaftswahl Teil fast aller politischen Gespräche in Washington. „Die Europäer trauen ihm einfach nicht”, sagt der ehemalige Nato-Oberkommandierende General Wesley Clark. Joe Biden wird die nächsten 48 Stunden dazu nutzen, sich von seinem Konkurrenten abzugrenzen. Es wird ein Zitter-Gipfel.
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