Eine weltweit vernetzte Bruderschaft
Im Foyer eines Wiener Hotels sitzt Steven Merley, ein großer, schlanker Mann mit festem Händedruck und sonorer Stimme. Er wartet, starrt einige Sekunden auf das schwarze Diktiergerät, das vor ihm auf dem Tisch liegt. "Sie nehmen das Gespräch auf? Na gut, ich verstehe. Was wollen Sie nun wissen?", fragt er, lehnt sich zurück und verschrenkt seine Arme. Der US-Amerikaner spricht schnell, im Stakkato, als wolle er alle Informationen unbedingt in einem Atemzug unterbringen.
Merley erforscht und analysiert als Chief Analyst beim US-Beratungsunternehmen Kronos Advisory den globalen Terrorismus. Seit dem 11. September 2001 untersucht er die Muslimbruderschaft. Seine Berichte werden von der US-Regierung und dem FBI als Quellen herangezogen.
Gespräch, aber keine Fotos
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten vom Volksschullehrer Hasan al-Bannā gegründet. Die sunnitische Bewegung folgt der "Tauhid"-Lehre, der Einheit zwischen Staat und Islam. In ihrer langen Geschichte pendelte die Bruderschaft zwischen gewalttätiger Opposition und Zusammenarbeit mit der Führung, zwischen Einsatz für einen islamischen Staat und Bekenntnissen zur Demokratie (mehr zur Muslimbruderschaft lesen sie im unteren Abschnitt).
Im KURIER.at-Gespräch spricht Merley über sein Konzept "Global Muslim Brotherhood", ein internationales Netzwerk der Muslimbruderschaft, das auch in Österreich präsent sei.
Vor dem Interview wurde vereinbart, keine Fotos zu machen. "Herr Merley bewegt sich in einem Feld, das ideologisch kontrovers diskutiert wird. Wir bitten um Verständnis, dass keine Aufnahmen gemacht werden können", heißt es vom Organisator des Treffens.
KURIER.at: Herr Merley, Sie sind Experte…
Steven Merley: Ermittler.
Bitte?
Ich bin Ermittler oder Rechercheur, wie Sie wollen, aber kein Experte.
Worin besteht der Unterschied?
Ich recherchiere Informationen und publiziere sie. Wenn Sie wissen wollen, welche Unterwäsche Muslimbrüder tragen, werde ich es ihnen sagen. Ob ein Experte das weiß, bezweifle ich.
Wenn ich wissen möchte, wo die Globale Muslimbruderschaft [Global Muslim Brotherhood, Anm.] ihren Hauptsitz hat,…
… kann ich es Ihnen nicht sagen. Das hat einen simplen Grund: Die Globale Muslimbruderschaft ist keine Organisation. Es ist ein Konzept, das ich entwickelt habe, als ich mit meinen Recherchen über islamistische Gruppierungen in Europa oder den USA begann.
"Nach 15 Jahren intensiver Arbeit an diesem Thema kann ich Ihnen sagen: Es ist viel mehr als eine einfache Koexistenz dieser Gruppen."
Und dieses Netzwerk nennen Sie Globale Muslimbruderschaft.
Ja, es scheint mir die passendste Bezeichnung für diese internationale Verflechtung zu sein. Ich werde oft dafür beschuldigt, etwas zu behaupten, das ich nie behauptet habe. Und zwar, dass es sich um eine zentrale Organisation handelt, mit Büro, Charta und dergleichen. Das habe ich niemals gesagt. Es ist ein Netzwerk und nach 15 Jahren intensiver Recherchearbeit kann ich sagen: Es ist viel mehr als eine einfache Koexistenz dieser Gruppen.
Was dann?
Viele dieser Organisationen nennen sich nicht Muslimbrüder, sind jedoch alle untereinander und mit islamistischen Organisationen im Nahen Osten durch gemeinsame Ideologie, Personenidentitäten, regelmäßige Treffen, Finanzierung etc. engstens vernetzt.
Dass Gruppen miteinander in Kontakt stehen, ist nicht unüblich.
Nein, ist es auch nicht. Interessant ist aber, dass sehr viele von Muslimbrüdern gegründet wurden, die aus ihren Heimatländern geflüchtet sind oder ein Auslandssemester in Europa gemacht haben. Heute sind aus den kleinen Gruppen wichtige islamische Organisationen in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und so weiter geworden.
Zum Beispiel?
Ibrahim El-Zayat.
Sie meinen den ehemaligen Vorsitzenden der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland?
Die laut Verfassungsschutz Repräsentant der Muslimbruderschaft in Deutschland ist. El-Zayat war außerdem der Westeuropa-Repräsentant der Weltversammlung Muslimischer Jugend (WAMY), die nach US-Informationen sowohl Extremisten als auch den Terrorismus in Ländern wie Bosnien, Israel und Indien finanziert. El-Zayat ist auch ein gefragter Mann in vielen ausländischen Organisationen der Muslimbruderschaft, allen voran der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE). Das sind keine verrückten Beziehungen wie diese "ein Mann kennt diesen Mann und der wiederum kennt diesen Mann, der wieder jemanden kennt". Das sind Verbindungen erster Ordnung.
Gibt es auch nach Österreich solche Verbindungen?
Wir wissen, dass die in Wien ansässige Liga Kultur [Verein zur Förderung des kulturellen Austausches und der Integration, Anm.] Teil der FIOE ist oder war - es ist nicht so einfach zu sagen, weil die Organisation nicht sehr transparent ist. Wir wissen auch, dass sich zumindest die Palästinensische Vereinigung Österreichs und höchstwahrscheinlich auch der Palästinensische Humanitäre Verein an der sogenannten "Union of Good" beteiligt haben. Die Initiative finanziert Hamas nahe Organisationen und wird von den USA als Terrorismus-Sponsor eingestuft.
Viele Menschen verbinden mit der Muslimbruderschaft Ägypten - vor allem seit dem Arabischen Frühling.
Einige Ägypter in Österreich halten Verbindungen zur Muslimbruderschaft. Einer der bekanntesten unter ihnen war Ayman Aly, ein enger Vertrauter von El-Zayat. In den Neunzigerjahren ist er nach Graz gezogen, wurde dann FIOE-Generalsekretär und schließlich Sprecher und Berater des ägyptischen Ex-Präsidenten Mursi.
Heute sitzt Aly wegen seiner Verbindungen zu Mursi als einer von vielen Muslimbrüdern im Gefängnis. Ist die Muslimbruderschaft gefährlich?
Das ist die One-Million-Dollar-Frage. Jeder wird zustimmen, dass die Al Kaida gefährlich ist, dass der "Islamische Staat" gefährlich ist, dass Boko Haram gefährlich ist. Niemand wird Ihnen widersprechen. Aber wo befindet sich die Muslimbruderschaft? Für Rechtspolitiker ist die Bruderschaft kategorisch für alles Übel auf der Welt verantwortlich, sie ist die strategische Wurzel des Terrorismus. Auf der linken Seite heißt es hingegen, die Bruderschaft ist liberal und friedvoll, eine politische Instanz. Beides ist naiv.
Sie bewerten die Beziehung der Muslimbruderschaft zur Gewalt als "hochproblematisch". Zumindest haben Sie es in der International Business Times so geschrieben…
Das ist nicht korrekt. Ich habe den Jenkins Report 2015 [Bericht über Muslimbruderschaft, Anm.] der britischen Regierung über die Muslimbrüder zitiert.
Sie sind also anderer Meinung?
Nein. Ich stimme dem vollinhaltlich zu, aber der Satz stammt nicht aus meiner Feder.
"Wir müssen festhalten: Muslimbrüder bauen keine Bomben."
Wie sieht diese hochproblematische Beziehung zur Gewalt aus?
Wir müssen festhalten: Muslimbrüder bauen keine Bomben, sitzen aber mit Organisationen zusammen, die Bomben bauen und den Terrorismus finanzieren. Es gibt Beweise, dass wichtige Führer der Muslimbruderschaft eine zwölf Jahre lange politische Kooperation mit einer Gruppe namens "Global Anti-Aggression Campaign" pflegte.
Wer sitzt in dieser Gruppe?
Diese Organisation besteht aus Salafisten, Dschihadisten und Menschen die in den USA als Terroristen geführt werden. Über zwölf Jahre kamen sie mit den Größen der Muslimbrüder zusammen und urteilten, dass der Westen gegen Muslime ist und man den Westen deshalb bekämpfen muss. Also, ist es gefährlich, wenn die Muslimbruderschaft mit Menschen kooperiert, die zum Beispiel die USA attackieren wollen oder die Al Kaida finanzieren? Das muss jeder für sich alleine beantworten.
Was sagen Sie als Ermittler?
Die Muslimbruderschaft hat ein sehr klares Narrativ: Der Westen ist im Krieg gegen den Islam. Wenn Sie glauben, dass ein Narrativ einen Unterschied macht, dann sind Sorgen nicht unbegründet.
Verhält sich die Regierung in Ägypten richtig, wenn sie Muslimbrüder als Terroristen einstuft und verbietet?
Nicht nur in Ägypten. Auch im US-Kongress gibt es ähnliche Überlegungen. Wenn Sie meine persönliche Meinung wissen wollen: Für mich stellt sich die Frage, wie eine Verbannung einer vernetzten Bewegung in der Praxis funktionieren kann? Aber wie gesagt, ich gebe Ihnen Informationen, keine Empfehlungen. Das sollen Politiker tun.
Ihre Informationen werden nicht nur für Berichte von Politikern verwendet, sondern auch von Rechtsradikalen.
Meine Informationen sind öffentlich zugänglich. Natürlich bin ich als jemand, der selbst jahrelang rechtsextremistische Netzwerke recherchierte, nicht begeistert, wenn Rechtsradikale meine Recherchen für ihre Zwecke missbrauchen, also auch gegen Muslime hetzen und den Koran für alles beschuldigen. Arbeiten über die Taliban, den IS oder die Al Kaida wären wohl weniger kontroversiell. Niemand wird diese Gruppen verteidigen wollen.
Zur Person: Steven Merley arbeitet als Chief Analyst beim US-amerikanischen Beratungsunternehmen Kronos Adivsory, das sich auf die Analyse des globalen Terrorismus spezialisiert. Als Ermittler und Geheimdienstspezialist hat er Anfang der Neunzigerjahre den politischen Extremismus in den USA untersucht. Seit 11. September 2001 analysiert Merley die Muslimbruderschaft in Nahost, Europa und den USA.
Website: "The Global Muslim Brotherhood Daily Watch"
Die Muslimbruderschaft hat eine lange Geschichte. Sie wurde 1928 in Ägypten vom Volksschullehrer Hasan al-Bannā gegründet. Zu Beginn war die Muslimbruderschaft eine religiöse und philanthropische Gesellschaft, die im Umfeld hegemonialer Ansprüche der Briten islamische Moralvorstellungen verbreiten und wohltätige Aktionen unterstützen wollte. Doch bereits in den Dreißigerjahren wurden die Aktivitäten der Gruppe zunehmend gesellschaftspolitisch. Als Ziel wurde die Errichtung eines islamischen Staates mit islamischer Rechtsprechung (Sharia) formuliert. Den Westen mit seinen angeblich negativen Einflüssen sah man von Anfang an als existenzielle Bedrohung für das islamistische Projekt an.
Ein Staat im Staat
In dieser Zeit begann al-Bannā einen allumfassenden und revolutionären Islam zu predigen, er sollte eine neue Generation von Muslimen erzogen werden, die den Islam korrekt verstehe. Dazu sei allerdings erst einmal eine moralische Reform notwendig. Die Muslimbrüder engagierten sich in der Jugenderziehung, in sozialen sowie karitativen Einrichtungen und machten Öffentlichkeitsarbeit.
Laut Richard Paul Mitchell, Autor des 1969 erschienen Buchs "The Society of the Muslim Brothers", nahmen die Muslimbrüder bis 1939 die Form einer politischer Gruppierung mit streng hierarchischen Strukturen an. Es sei ihnen gelungen, einen Staat im Staate aufzubauen, indem sie ihre eigenen Firmen gründeten, Fabriken, Schulen und Krankenhäuser unterhielten und innerhalb der Armee und den Gewerkschaften Posten und Ämter besetzten.
Gewalt gegen Regierung und Bruderschaft
Gewalt galt für al-Bannā dabei nur als letzter Ausweg. Doch einige Teile seiner Organisation wurden militanter, die Spannungen zwischen Regierung und Anhänger der Muslimbruderschaft nahmen ständig zu. 1948 ermordete ein Muslimbruder den ägyptischen Premier Mahmûd Fahmî an-Nuqrâshî, was zum Verbot der Bruderschaft führte. Ein Jahr später fiel Hasan al-Bannā selbst einem Anschlag zum Opfer. Zu dieser Zeit waren die Muslimbrüder die bedeutendste politische Organisation des Landes.
Die Gewalt nahm nicht ab. Als 1954 ein Mitglied vergeblich versuchte den damaligen Präsidenten Ägyptens, Gamal Abdel Nasser, zu töten, ging die Regierung mit Härte gegen die Muslimbrüder vor. Sie ließ sie verhaften, foltern und umbringen – unter den Opfern war auch Saiyid Qutb, einer der wichtigsten Vordenker des radikalen politischen Islams. Er verfasste Hass-Pamphlete gegen den Westen, auf die sich heute das Terrornetz El Kaida als ideologische Grundlage beruft. Qutb wurde zum Tod durch Hängen verurteilt – 1966 wurde das Urteil vollstreckt.
Verboten und stärkste oppositionelle Kraft
Obwohl die Muslimbruderschaft später der Gewalt abschwor, versuchte in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine Reihe von militanten Gruppierungen ihre Aktionen unter Bezugnahme auf die radikalen Schriften Qutbs zu legitimieren. Diese führte dazu, dass das Verbot, das zwei Jahrzehnte zuvor ausgesprochen wurde, nicht aufgehoben wurde. Die Muslimbrüder arbeiteten im Untergrund.
Erst 1984 legalisierte der damalige Präsident Hosni Mubarak die Bewegung als religiöse Organisation, verwehrt ihr aber den Status einer politischen Partei. Seit 1984 nehmen sie mit sogenannten "unabhängigen" Kandidaten an Parlamentswahlen teil. Schnell wurden sie zur stärksten Oppositionskraft in Ägypten und setzten sich für Demokratie und Pluralismus ein.
Mursi kam an die Macht
2005 konnten sie 88 der 455 Mandate erringen. Der Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak 2011 eröffnete den Muslimbrüdern neue Möglichkeiten. Im Juni 2012 gewann ihr Kandidat Mohammed Mursi die erste freie Präsidentenwahl in Ägypten. Doch bereits ein Jahr nach Amtsantritt wuchs der Unmut in der Bevölkerung, weil sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechterte. Zudem mussten sich die Islamisten vorhalten lassen, sie seien ebenso undemokratisch und korrupt wie seinerzeit Mubarak.
Tausende Ägypter gingen auf die Straßen und protestierten gegen Mursi, der im Sommer 2013 von der Armee abgesetzt wurde. Seitdem geht die ägyptische Regierung unter Staatsoberhaupt Abdel Fattah al-Sisi massiv gegen die Muslimbrüder vor, die in Ägypten nun als Terroristen verfolgt werden – egal ob moderat oder radikal eingestellt. Das Militärgericht verhängt immer wieder umstrittene Todesurteile, die von Menschrechtsorganisationen heftig kritisiert werden.
Hamas: der verlängerte Arm
Die Muslimbruderschaft verstand sich von Anfang an als transnationale islamistische Bewegung. Heute gibt es Zweigorganisationen auch in anderen arabischen Ländern wie Jordanien. Auch die radikale Organisation Hamas in den Palästinensergebieten ging aus der Muslimbruderschaft hervor. Sie lehnt die Existenz Israels ab und bekennt sich zum bewaffneten Kampf gegen den jüdischen Staat.
Kommentare