Ursula von der Leyen: Verlieren ist heute verboten

Bis zum Abend muss Ursula von der Leyen zittern, ob sie zur ersten Chefin der EU-Kommission gekürt wird. Scheitert sie, droht der EU eine Krise.

Der Weg an die Spitze führt über 374 Stimmen. Mindestens so viele EU-Abgeordnete müssen Ursula von der Leyen heute um 18 Uhr wählen, wenn sie als erste Präsidentin der EU-Kommission in die Geschichte eingehen will. Fehlt der 60-jährigen deutschen Verteidigungsministerin hingegen auch nur eine Stimme zur Mehrheit, wäre nicht nur ihr Traum zu Ende, ehe er noch begonnen hat. Auch die gesamte EU würde ein in dieser Form noch nie da gewesenes Debakel erleben.

Mit aller Kraft kämpft die designierte EU-Kommissionschefin deshalb bis zuletzt um jeden einzelnen Angeordneten. Seit Tagen wird entworfen, gestrichen und wieder neu formuliert, was die „Rede ihres Lebens“ werden soll. Mit ihrer großen programmatischen Rundschau will Ursula von der Leyen am Vormittag ihre Leitlinien vorlegen und die Zweifel an ihr ausräumen.

Zudem warb sie am Montag in einem achtseitigen Schreiben um die besonders skeptischen europäischen Sozialdemokraten. Viele Versprechen legte sie dabei vor: von einem neuen Vorstoß zur Reduzierung der Treibhausgase über eine EU-weite Durchsetzung von fairen Mindestlöhnen bis hin zu einer stärkeren Rolle des EU-Parlaments beim Gesetzgebungsverfahren.

Ursula von der Leyen: Verlieren ist heute verboten

Von der Leyen wird als Verteidigungsministerin zurücktreten

Rücktritt als Ministerin

Einen Weg zurück ins deutsche Verteidigungsministerium sieht sie nicht mehr: Auf Twitter kündigte sie gestern an, ungeachtet des Abstimmungsergebnisses im EU-Parlament am Mittwoch als Verteidigungsministerin zurückzutreten.

Europas Grüne und die Linke (GUE/NGL) haben sich schon in der Vorwoche auf ein Nein zu von der Leyen festgelegt. Und auch der Widerstand vieler Sozialdemokraten schien weiter unüberwindbar. Vor allem die deutschen und die österreichischen SP-Abgeordneten wollen die 60-jährige Deutsche nicht wählen.

Begründung: Kein einziger Spitzenkandidat der EU-Wahl sei zum Zug gekommen, deshalb müsse die CDU-Politikerin als Präsidentin der Kommission verhindert werden. Die SPD sieht die Demokratie beschädigt und den Wählerwillen ausgehebelt.

Doch die Bremse der deutschen EU-Sozialdemokraten, die möglicherweise zum Scheitern von der Leyens beitragen könnte, ärgert auch so manchen Sozialdemokraten daheim. Die SPD solle sich „nicht an den engstirnigen parteipolitischen Interessen orientieren, sondern lieber an die Stabilität Europas denken“, empfiehlt der frühere SPD-Innenminister Otto Schily seinen Parteifreunden.

Auf die Stimmen der Europäischen Volkspartei (182) und der Liberalen (108) kann Ursula von der Leyen hingegen ziemlich geschlossen zählen. Dass sich ihre Kür dennoch knapp ausgehen könnte, selbst wenn ihr viele Sozialdemokraten wegbrechen, liegt an der polnischen konservativen PiS und den italienischen Populisten.

Dabei legte die unermüdlich durch die Fraktionen tourende, Wangen küssende und Hände schüttelnde von der Leyen Wert darauf, die Parteienfamilie der Rechtspopulisten (ID) als Einzige erst nach der Abstimmung aufzusuchen.

Sie wollte sich nicht dem, von der SPD in Umlauf gebrachten Vorwurf aussetzen, sie könne „nur mit den Stimmen der Rechten zur Kommissionschefin“ gekürt werden. Die drei Mandatare der FPÖ haben angekündigt, gegen die deutsche Ministerin zu stimmen.

Als sicher aber gilt: Sowohl rechte Lega-Abgeordnete als auch die linken Fünf-Sterne-Mandatare wollen für die Deutsche stimmen. Was zur absurden Situation führen dürfte, dass die erste deutsche Kommissionsführung seit mehr als einem halben Jahrhundert von mehr Italienern als von Deutschen gewählt würde.

Ursula von der Leyen: Verlieren ist heute verboten

Plenum im EU-Parlament in Straßburg

Auf direktem Weg in die Krise

Was aber, wenn Ursula von der Leyen scheitert? Dann betritt die EU Neuland auf direktem Weg in die nächste Krise. Dann würde das Gezerre um Macht und die wichtigsten Posten in der EU wieder von vorne beginnen, das bisher geschnürte Personalpaket wäre Geschichte.

Binnen vier Wochen müssten die EU-Staats- und Regierungschefs neue Namen präsentieren, nächtliche Sondersitzungen bei EU-Sondergipfel inklusive.

Die Spitzenkandidaten Manfred Weber (EVP), Frans Timmermans (SP) und Margrethe Vestager (Liberale) wären genauso wenig durchzubringen wie bisher. Und andere Namen wie etwa Michel Barnier, der EU-Chef-Brexitverhandler, würde von den Sozialdemokraten genauso abgelehnt werden, weil dieser kein Spitzenkandidat war.

Optimismus in dieser Lage bot gestern ausgerechnet einer, der verloren hat – Manfred Weber. Der Spitzenkandidat der EVP, der Präsident der Kommission werden wollte, ließ wissen: „Ich gehe davon aus, dass es eine Mehrheit im Parlament für Ursula von der Leyen geben wird – und zwar eine klare.“

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