Wer ist diese Frau, die schon in wenigen Tagen den wichtigsten Posten übernehmen könnte, den Europa zu vergeben hat? „UvdL“, wie ihr Kürzel im politischen Berlin lautet, ist eine Power-Frau: Promovierte Ärztin, Mutter von sieben Kindern, erfolgreiche Dressurreiterin – und eine der erfahrensten deutschen Politikerinnen.
Ihre Karriere begann eigentlich schon als Kind. Ursulas Vater, der Ministerpräsident, spannte bei seinen Wahlkämpfen regelmäßig die gesamte Familie ein. Die Albrechts ließen sich im elterlichen Park mit Ponys, Ziegen und Hunden ablichten oder baten die Fotografen zur Hausmusik ins herrschaftliche Wohnzimmer. Dort spielte „Röschen“, wie der CDU-Patriarch seine einzige Tochter Ursula nannte, zum Entzücken der Reporter auf dem wohl gestimmten Klavier. Einmal gab die konservative Vorbild-Familie im Norddeutschen Rundfunk sogar ein Solo-Ständchen mit Jagdliedern zum Besten.
Der Spott der Linken prallte an ihnen ab, denn Ernst Albrecht regierte 14 Jahre lang in Niedersachsen. Kein Wunder, dass „Röschen“ die Grundregeln des politische Show-Business schon von Kindesbeinen an erlernte. Viele Weggefährten wollen bei ihr auch heute noch die typische Mimik und Gestik des berühmten Vaters erkennen.
Den eigenen Weg in die Politik fand sie spät. Zunächst suchte „Ursula“ Abstand von der dominierenden Familie und studierte in London Volkswirtschaft. Doch die Ökonomie gefiel ihr so wenig wie das Leben in der britischen Weltstadt. „Ich habe mich oft isoliert und unglücklich gefühlt“, berichtet sie später. Nach sechs Semestern brach sie das Studium ab, ging zurück nach Hannover und schrieb sich für Medizin ein.
Ihre Einsamkeit war schlagartig vorbei, als sie im Chor der Universität ihren Mann Heiko kennenlernte. „Plötzlich war der Himmel voller Geigen“, erzählt sie schwärmerisch. Dass Heiko damals SPD-Mitglied war, störte die Studentin so wenig wie sein „Atomkraft-nein-danke“-Aufkleber am Auto.
Nach 20 Semestern wurde sie zur Ärztin approbiert. Da war sie schon ein Jahr lang verheiratet und hatte das erste von sieben Kindern zur Welt gebracht – für deren Betreuung sie ausreichend Nannys hatte. Die wachsende Familie zog nach Kalifornien, weil Heiko, inzwischen Medizin-Professor und heute Geschäftsführer einer Firma für klinische Studien, einen Ruf an die renommierte Stanford-Universität erhalten hatte. Der american way of life gefiel dem jungen Paar. „Die Amerikaner erschienen uns familienfreundlicher“, sagte „UvdL“ später in einem Interview. „Gehen Sie mal mit sieben Kindern in ein Geschäft“. In den USA werde man dafür sofort beglückwünscht. „In Deutschland haben die Verkäuferinnen Angst, dass etwas kaputtgeht.“
1996 kehrten die von der Leyens nach Hannover zurück. Sie arbeitete noch fünf Jahre lang im Krankenhaus. Doch 2003 wagte auch sie den Sprung in die Politik – und legte gleich eine Blitzkarriere hin. Ursula von der Leyen errang ein Landtagsmandat und wurde als Novizin sofort zur Landesministerin für Soziales und Gesundheit ernannt. Doch das war erst der Anfang. Recht schnell wurde Angela Merkel auf sie aufmerksam. Dass die siebenfache Mutter energisch und unerschrocken gegen das traditionelle Familienbild der CDU-Honoratioren kämpfte, gefiel Merkel. Sie fand in ihr eine wirkungsmächtige Mitstreiterin bei der überfälligen Modernisierung der Altherren-CDU.
Als Familienministerin in Berlin kämpfte von der Leyen erfolgreich für das Recht auf einen Kita-Platz und für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Allerdings legte sie sich auch mit der Internet-Gemeinde an. "Zensursula" wurde sie genannt, weil sie mit rigiden Maßnahmen die Kinderpornografie im Netz unterbinden wollte – ohne durchschlagenden Erfolg.
Als Bundesarbeitsministerin begann von der Leyen vier Jahre später den langen Kampf um die Frauenquote in deutschen Aufsichtsräten. Ihr Stern stieg immer weiter; längst galt „UvdL“ im Kreis der Merkel-Nachfolger als Favoritin, als „Kanzlerin der Reserve“. Also unterzog Merkel sie einer letzten Bewährungsprobe und übertrug ihr 2013 das wohl schwierigste Amt, das in Berlin zu vergeben ist: Das Verteidigungsministerium.
Zwischentief
Plötzlich sank der Stern von „UvdL“. Rüstungsprojekte verzögerten sich, wurden teurer als geplant oder klappten gar nicht. Von der Leyen feuerte Generäle und versuchte mit Hilfe externer Berater eine Schneise durch die Machtapparate der Militärs zu schlagen. Doch die Millionenkosten für die McKinsey-Leute wuchsen sich zum neuen Skandal aus. Hinzu kamen zahllose Pannen bei der Flugbereitschaft der Bundeswehr und die Posse um die explodierten Kosten des Segelschulschiffs „Gorch Fock“. Von der Leyen, die der Bundeswehr in einem unüberlegten Augenblick einmal ein „Haltungsproblem“ unterstellte, fand nie das rechte Verhältnis zu den Soldaten. In Berlin galt sie zuletzt fast schon als Fall für die politische Ausmusterung.
Doch dann kam die Wende – ohne dass sie oder jemand sonst es bemerkt hätte: Am 17. Juni reiste die angeschlagene Verteidigungsministerin zur internationalen Luftfahrtmesse in Le Bourget bei Paris. Ebenfalls anwesend war der französische Staatspräsident. Charmant und sachkundig unterhielt sich von der Leyen dort mit Emmanuel Macron über die NATO und Fragen der Sicherheitspolitik – in fließendem Französisch. Schließlich wurde sie in Brüssel geboren und ging dort zur Schule, als ihr Vater vor seiner politischen Karriere noch hoher Beamter bei der EU war. Macron jedenfalls soll von der weltläufigen Deutschen sehr beeindruckt gewesen sein, hieß es später aus dem Elysée-Palast in Paris.
Späte Heimkehr nach Brüssel
Bei dieser Begegnung hatte sich Macron wohl entschieden, Ursula von der Leyen als deutsche Ersatzfrau für den biederen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber ins Spiel zu bringen – und damit sogar Angela Merkel zu überraschen. Die Kanzlerin hatte ihre frühere Favoritin gar nicht mehr auf dem Schirm.
Es gibt sie also wirklich, diese bedeutenden und oft überraschenden Momente im Leben, in denen sich Entscheidungen anbahnen, ohne dass man sich der Tragweite des Augenblicks auch nur ansatzweise bewusst wäre.
Für Ursula von der Leyen wäre der Präsidentenstuhl der EU-Kommission nicht nur die Krönung ihrer politischen Karriere, sondern auch eine sehr späte Heimkehr nach Brüssel.
Daniel Goffart
Werdegang: Der 58-jährige Deutsche ist eigentlich Anwalt, arbeitet aber seit 1992 im Medienbereich. Seit 2012 leitet Goffart das Hauptstadtbüro des „Focus“-Magazins.
Bücher: Goffart (www.danielgoffart.de) verfasste mehrere Bücher. 2015 gemeinsam mit seiner damaligen Kollegin Ulrike Demmer eine Ursula von der Leyen-Biografie: Kanzlerin der Reserve. Berlin Verlag. 240 S. 19,99 €.
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