Timoschenko erzielt wichtigen Etappensieg
Sieger sehen zwar anders aus – selten sitzen sie hinter Gittern –, aber am Dienstag gab es für Julia Timoschenko nach einer langen Serie juristischer Niederlagen tatsächlich etwas zu feiern. Der Grund: Seitens des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gab es am Dienstag eine klare Rüge für die ukrainische Regierung. Die kleine Kammer des EGMR kam zu dem Schluss, dass Timoschenkos Inhaftierung 2011 willkürlich erfolgt sei – aus „sachfremden Gründen“. Womit politische Motive angedeutet werden, auch wenn diese Formulierung vermieden wird.
Es ist ein Etappensieg. Aber Anlass genug für Timoschenkos Anwälte in Kiew und Straßburg, die sofortige Freilassung der Oppositionellen zu fordern. Sie hatten seit Beginn des Prozesses gegen die einstige Premierministerin von einem politischen Verfahren gesprochen und den Fall schließlich auch vor den EGMR gebracht.
In dem jetzigen Urteil geht es aber nur um ein Detail: Nämlich ausschließlich um Timoschenkos Verhaftung am 5. August 2011. Das Gerichtsverfahren in Kiew gegen sie war noch im Gang, als sie mit der Begründung in U-Haft genommen wurde, das Gericht missachtet zu haben. Damit sei gegen das Menschenrecht auf Freiheit verstoßen worden. Denn eben diese Verhängung der U-Haft sei aus „sachfremden Gründen“ erfolgt. Verstöße gegen das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung wurden nicht festgestellt. Und der Ausgang des Verfahrens (7 Jahre Haft) wird nicht kommentiert.
Darum geht es in einem zweiten Verfahren, das vor dem EGMR in Sachen Timoschenko anhängig ist: Den Vorwurf, Timoschenko sei das Recht auf ein faires Verfahren verwehrt worden.
Kein Kommentar
Seitens der ukrainischen Regierung schwieg man am Dienstag. Der ukrainische Vertreter vor dem EGMR, Nasar Kultschizki, sagte: Man werde diese Entscheidung analysieren. „So lange kann ich nichts kommentieren.“
Beide Seiten haben jetzt drei Monate Zeit, um Einspruch zu erheben. Kiew hat auch die Möglichkeit, eine Prüfung durch die Große Kammer des EGMR zu beantragen. Das Urteil ist damit nicht rechtskräftig und somit auch nicht bindend.
Klar ist aber: Der politische Druck auf die Führung in Kiew und Präsident Janukowitsch wächst. Ein Assoziationsabkommen mit der EU ist nach wie vor nicht unterzeichnet. Hauptkritikpunkt der EU: Die ukrainische Justiz stehe unter politischer Kontrolle und gehe selektiv gegen Oppositionelle vor.
Gerade in den vergangenen Tagen wurde in ukrainischen Medien über eine mögliche Begnadigung Timoschenkos spekuliert. Aber selbst wenn ihre Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs und Steuerhinterziehung annulliert werden sollte: Seit Jänner läuft gegen sie ein neues Verfahren. Und da geht es um einen Auftragsmord.
3. März 2010: Timoschenko muss nach einem Misstrauensvotum des Parlaments in Kiew zurücktreten. Der Vorwurf: Amtsmissbrauch. Sie habe zum Nachteil der Ukraine ein Abkommen über russische Gaslieferungen geschlossen.
24. Juni 2011: In Kiew beginnt der Prozess. Im Gerichtssaal und auf der Straße kommt es zu Tumulten zwischen Gegnern und Unterstützern.
5. August: Timoschenko kommt in Untersuchungshaft.
11. Oktober: Trotz internationaler Proteste verurteilt ein ukrainisches Gericht Timoschenko zu sieben Jahren Straflager und umgerechnet 137 Millionen Euro Schadenersatz. Sie legt Berufung ein.
18. Oktober: Nach dem Urteil sagt die EU ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch ab, der als Gegner von Timoschenko gilt. Viele halten ihn für den Drahtzieher des Prozesses.
30. Dezember: Timoschenko kommt in ein Frauenlager in der Stadt Charkow, rund 450 Kilometer östlich von Kiew.
14./15. Februar 2012: Die Oppositionsführerin klagt über Rückenschmerzen und wird im Straflager von Spezialisten der Berliner Klinik Charite untersucht. Diagnose: Bandscheibenvorfall.
20. April: Timoschenko tritt aus Protest gegen ihre Behandlung durch das ukrainische Lagerpersonal in Charkow in einen Hungerstreik.
8. Mai: Ein geplantes Treffen europäischer Staatschefs in Jalta platzt. Aus Protest gegen den Umgang mit Timoschenko hatten viele von ihnen abgesagt, darunter Bundespräsident Joachim Gauck.
9. Mai: Die Ex-Regierungschefin kommt in eine Spezialklinik außerhalb des Straflagers und beendet nach etwa drei Wochen ihren Hungerstreik.
21. Mai: Ein zweiter Strafprozess gegen Timoschenko wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Veruntreuung wird vertagt. Weitere Termine werden wegen Timoschenkos Krankheit immer wieder verschoben.
8. Juni: Beginn der Fußball-EM in Polen und der Ukraine. EU-Politiker boykottieren wegen Timoschenko die Spiele in der Ex-Sowjetrepublik.
3. Juli: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verurteilt die Justizwillkür in der Ukraine. Die Verhaftung von Timoschenkos früherem Innenminister Juri Luzenko im Jahr 2010 sei "willkürlich und ungesetzlich" gewesen.
28./29. August: Der EGMR hört Vertreter Timoschenkos und der Ukraine an. Das Oberste Gericht der Ukraine in Kiew lehnt Timoschenkos Beschwerde gegen das Urteil von Oktober 2011 ab.
29. Oktober: Bei der Parlamentswahl in der Ukraine kann die Regierung ihre Macht behaupten. Aus Protest gegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl tritt Timoschenko erneut in den Hungerstreik.
18. Jänner 2013: Weitere schwere Anschuldigungen der Justiz sorgen für Aufsehen: Timoschenko müsse sich auch wegen Mordes an einem Abgeordneten verantworten, den sie 1996 in Auftrag gegeben habe.
7. April: Auf Drängen der EU ist Timoschenkos Weggefährte Luzenko begnadigt worden. Das Dekret wird im Internet veröffentlicht.
30. April: Die kleine Kammer des EGMR rügt die Ukraine und kritisiert die Untersuchungshaft Timoschenkos einstimmig als "willkürlich" und "rechtswidrig". Gegen das Urteil können beide Seiten binnen drei Monaten Rechtsmittel einlegen.
Die seit mehr als eineinhalb Jahren inhaftierte ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko kämpft ungebrochen für ihre Freilassung. Mit flammenden Appellen führt die 52-Jährige in der Ex-Sowjetrepublik die Opposition gegen Präsident Viktor Janukowitsch. Sie und ihre Anhänger stellen das Ringen mit ihrem Erzfeind als Kampf zwischen Gut und Böse dar. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wollte Timoschenko nun ihre Sicht durchsetzen, dass sie im Oktober 2011 aus politischen Gründen zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs verurteilt wurde.
Wegen andauernder Schmerzen ist die streitbare Vollblutpolitikerin vor rund einem Jahr in der Stadt Charkow vom Straflager in eine Klinik verlegt worden. Auch Spezialisten der Berliner Charite behandeln sie dort. Ihrer schlechten Gesundheit zum Trotz zeigt sich die charismatische Timoschenko hinter Gittern ungebrochen. Die Justiz ermittelt aber noch in anderen Verfahren gegen sie.
In ihrer Vaterlandspartei ist Timoschenko allerdings nicht mehr die alleinige Anführerin. Zwar wurde sie bereits demonstrativ zur Kandidatin für die Präsidentenwahl 2015 ernannt. Allerdings bringen sich auch Parteigrößen wie Fraktionschef Arseni Jazenjuk in Stellung.
Die in der Industriestadt Dnjepropetrowsk geborene Timoschenko stieg durch die Privatisierungswelle nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 zur reichen "Gasprinzessin" auf. Politische Gegner werfen der zierlichen Frau mit Blick auf deren Privatvermögen vor, keine saubere Weste zu besitzen. Für viele auch in Westeuropa ist Timoschenko mit dem markanten blonden Haarkranz aber immer noch ein Symbol der prowestlichen Orangenen Revolution von 2004.
Als "Botschafterin" vertritt Tochter Jewgenija die Interessen der Mutter bei Reisen durch Europa. Ehemann Alexander flüchtete nach Prag. Er wirft der ukrainischen Justiz politische Verfolgung vor.
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