Ukraine steckt im Dilemma

Wie ein Mahnmal für den eingefrorenen Krieg in der Ostukraine: eine nicht explodierte Rakete
Kraftmeierei Moskaus und schwache EU – Ukraine droht neue Revolution.

Vor genau zwei Jahren mutierten Massenproteste in der Ukraine binnen Tagen immer mehr zu einer Revolution gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch. Die letztlich blutige Revolte sollte der Anfang von Janukowitschs Ende als Präsident sein. Und sie läutete turbulente Zeiten ein: Die Krim war wenige Monate später von Russland annektiert, im Osten des Landes marschierten tschetschenische und russische Milizen auf und forderten den Anschluss an Russland. In Kiew selbst ringt eine intern zerstrittene Führung seither um gesichtswahrende Reformen unter dem Druck einer Öffentlichkeit, die im Selbstbewusstsein existiert, binnen zehn Jahren zwei Präsidenten aus dem Amt revoltiert zu haben.

All das, während heute die russische Armee im Osten des Landes stationiert ist, eine Staatspleite droht und der Staat damit ringt, seine ureigensten Aufgaben wahrnehmen zu können. Stichwort: Gewaltmonopol, Sicherung der territorialen Integrität mit einer in den Janukowitsch-Jahren bis zur faktischen Inexistenz geschrumpften Armee, Aufrechterhaltung der Verwaltung, Sicherung der grundlegenden Lebensbedürfnisse der Bürger. Die Grenze zwischen der Festland-Ukraine und der Krim gleicht heute praktisch einer Staatsgrenze. Und im Osten hat sich die Front mehr oder weniger stabilisiert – wenn auch immer wieder Kämpfe anschwellen.

Alphamännchen

Und so steckt sie fest, die Ukraine, in einem Krieg, der jederzeit wieder aufflammen kann. Und in einem schon regierungsintern schwierigen Gezerre von Alphamännchen um Reformen, politische Maßnahmen und letztlich auch eigene Macht mit vielen vielen Zwischenrufern – von Oligarchen über Reformer bis hin zu politischen Gruppen oder ethnischen Minderheiten wie den Krimtataren.

Fazit: Es zieht sich mit den Reformen. Die Krux an der Sache aber ist, wo anfangen mit Reformen in einem Staat, in dem die Erledigung eines einfachen Amtsweges seit jeher von guten Beziehungen oder finanziellem Schmiermittel abhing; in dem Beamte aber aufgrund der Finanzlage des Staates bei zugleich rasant steigender Inflation von solchen "Spenden" leben. Von Top-Funktionären und Großunternehmern und deren Machtpolitik gar nicht zu reden.

Dabei ist es nicht so, dass nichts passiert wäre. Reformen wurden auf den Weg gebracht. Gebietskörperschaften wurden geschaffen, die die extrem korruptionsanfälligen Regionalverwaltungen bei der Budgetverteilung ausbremsen sollen. Es gibt neue Mechanismen zur Korruptionsbekämpfung. "Wenn nichts unvorhergesehenes passiert", so ein ukrainischer Diplomat, "dann hat die Regierung Chancen, die Legislaturperiode zu überstehen."

Schöne Augen

Es sind genau diese "unvorhersehbaren Dinge", die wie ein Damoklesschwert über dem Land hängen. Dass der Krieg im Osten genau zu jenem Zeitpunkt einschläft, an dem Moskau (angesichts des niedrigen Ölpreises und des Eingreifens in Syrien) der EU schöne Augen macht, und im Austausch für eine Kooperation in Syrien ein Ende der EU-Sanktionen suggeriert, ist wohl kein Zufall. Die Reaktionen aus der EU darauf aber bedeuten postwendend für Kiew, dass zugesagte Unterstützung der EU infrage steht. Und zugleich: Dass Moskau den Krieg jederzeit je nach Belieben wieder hochkochen lassen kann.

Ein Krieg, den Kiew aus jetziger Sicht bestenfalls einfrieren lassen kann, um Luft zu bekommen. Diese Einsicht dürfte gesickert sein in Kiew – auch wenn die Rückholung des Ostens und der Krim nach wie vor laut versprochen wird.

Der wohl größte Unsicherheitsfaktor aber ist neben den Staatsfinanzen die offenkundige Schwäche und Zerstrittenheit der Regierung – unübersehbar bei Prügeleien im Parlament oder auch, als es darum ging, die Stromversorgung der Krim wieder herzustellen, nachdem Leitungen auf die Halbinsel gesprengt worden waren. Oder jüngst, als der von Präsident Poroschenko ernannte Gouverneur von Odessa, Georgiens Ex-Präsident Saakaschwili, von Innenminister Awakow im Zuge eines Streits während einer Regierungssitzung ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet bekam.

Schwächelnde EU

Angesichts der gegenüber der Ukraine schwächelnden EU bei zugleicher Kraftmeierei Moskaus sollte ein Umstand nicht übersehen werden – so unpopulär der Krieg im Osten im Rest des Landes heute auch sein mag: Aktivisten fast aller Lager und Zehntausende junge Männer, die mit Kriegsgerät umzugehen gelernt haben, werden nie ein Moskau-treues Regime in Kiew akzeptieren. Möglicher Preis für ein Fallenlassen Kiews durch die EU könnte noch eine Revolution bis hin zu einem Aufstand in der Westukraine sein – direkt an der Grenze zur EU.

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