Warum Selenskij seine Anti-Korruptionsjäger lahm legt - und damit große Proteste auslöst

Proteste in Kiew gegen Selenskijs neues Gesetz
Reden gab es keine, in der zweiten Protestnacht vorwiegend junger Ukrainer und Ukrainerinnen, in mehreren Städten des Landes. Sie wollen sich keiner Partei zuordnen lassen, aber umso heftiger demonstrieren, gegen das jüngste Vorgehen von Präsident Wolodimir Selenskij. Auf ihren in die Höhe gehaltenen Pappschildern steht zu lesen: „Schande“ oder „Wollen Sie mich verarschen?“
Zum ersten Mal seit der russischen Aggression gegen die Ukraine vor mehr als drei Jahren hat Selenskij eine Front im Inneren gegen sich. Der Grund: Ein im Blitzverfahren verabschiedetes und vom Präsidenten Dienstagnacht unterschriebenes Gesetz, das de facto die Anti-Korruptionskämpfer im Land lahm legt. Das Gesetz entzieht dem Nationalen Antikorruptionsbüro (NABU), das vor zehn Jahren unter dem Druck der USA und der EU gegründet wurde, seine Unabhängigkeit. Denn sowohl NABU als auch der Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung werden demnach dem Generalstaatsanwalt unterstellt – und der wird wiederum vom Präsidenten ernannt und erhält vor allem die Befugnis, etwaige Ermittlungen der Korruptionsbekämpfer einzustellen.
Das heftige Ausmaß der Proteste dürfte Selenskij überrascht haben. Noch am Donnerstag legte er eine neue Version des Gesetzes zur Funktion von Antikorruptionsorganen vor. Diese werde die Unabhängigkeit der Behörden zur Korruptionsbekämpfung gewährleisten, versprach er. Details nannte der Präsident nicht, er blieb aber bei dem Vorwurf, bei den Anti-Korruptionsjägern gebe es „russischen Einfluss“.

Präsident Wolodimir Selenskij
Hintergrund des im Schnellverfahren durchgepeitschtes Gesetzes dürfte sein, dass die Anti-Korruptionsbehörden einigen Personen im nahen Umfeld des Präsidenten auf die Füße getreten sind. Darunter vor allem Vizepremier Oleksij Tschernyschow. Im Juni hatte die NABU einen Antrag auf Suspendierung Tschernyschows gestellt. Ihm wird Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit vorgeworfen. Als Infrastrukturminister soll er 2022 Voraussetzungen für die Übergabe eines Grundstücks an ein staatliches Unternehmen geschaffen haben, das daraufhin Investitionsverträge für den Bau von Wohnhäusern mit bestimmten Firmen abschloss. Das Grundstück und die später dort gebauten Häuser wurden dabei fast fünfmal günstiger als der damals übliche Marktwert bewertet, wodurch der Staat um Millionen geprellt wurde. Tschernyschow weist alle Vorwürfe zurück.
Die Ermittlungen der NABU richteten sich aber auch gegen zahlreiche andere Personen.
Empörung in Brüssel
In Brüssel stößt das Vorgehen der ukrainischen Machtträger gegen die Korruptionsjäger auf große Empörung. So werde die weitere Annäherung der Ukraine an die EU gefährdet, der Aufbau eines unabhängigen Justizsystems und Korruptionsbekämpfung sei unabdingbar.
„Diese Institutionen sind für die Reformagenda der Ukraine von entscheidender Bedeutung und müssen unabhängig agieren, um Korruption zu bekämpfen und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu wahren“, sagte ein Sprecher der EU-Kommission. „Der Beitritt der Ukraine erfordert eine starke Kapazität zur Korruptionsbekämpfung und zur Gewährleistung institutioneller Widerstandsfähigkeit.“ EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, bisher eine treue Unterstützerin des ukrainischen Staatschefs, rief ihn an, um ihre „große Besorgnis über die Folgen der Änderungen“ zu äußern.
„Die Russen wollen uns töten … Aber an dieses Gefühl gewöhnt man sich“, schreibt eine Demonstrantin auf facebook. „Viel schlimmer ist das Gefühl der Gefahr durch die Regierenden des eigenen Landes – durch das eigene Volk, dem man im Krieg einen Teil seiner Freiheiten geopfert hat.“
Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew und häufiger Kritiker Selenskijs, sagte, das Gesetz „bringt die Ukraine definitiv nicht näher an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Legalität heran – an jene Werte, für die unsere Soldaten heute sterben.“
Ermittler im Visier der Geheimdienste
Schon vor der Verabschiedung des Gesetzes waren Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörden ins Visier von Ermittlern genommen worden. Der ukrainische Geheimdienst (SBU) und die Generalstaatsanwaltschaft nahmen Dutzende Razzien bei Mitarbeitern der NABU vor. Der Vorwurf: Sie sollen Informationen an den russischen Geheimdienst weitergegeben haben. Anderen wiederum wurde vorgeworfen, sie seien in Verkehrsunfälle verwickelt.
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