Ukraine: Protest zeigt Wirkung - und hält an
Viktors Bauhelm ist mit einem Mal wieder ein legales Kleidungsstück. Er lacht, der Mann um die 50. „Da haben der Hase, der Boxer und der Nazi doch noch was zustande gebracht“, sagt er. Er meint die drei Oppositionspolitiker Jarzenjuk, Klitschko und Tyahnybok. „Aber wir haben sie dazu gebracht“, sagt er und meint die Massen auf der Straße und auf den Barrikaden in Kiew.
Am Dienstag stimmte das Parlament in der ukrainischen Hauptstadt mit nur zwei Gegenstimmen für die Rücknahme einer am 16. Jänner im Eiltempo beschlossenen Verschärfung der Versammlungsgesetze. Diese hatten das Tragen von Helmen, das Blockieren von Regierungsgebäuden sowie jede Ansammlung von mehr als fünf Autos unter Strafe gestellt. Zugleich kündigte Premier Azarow am Dienstag seinen Rücktritt an, auch der Rest des Kabinetts nimmt den Hut. Wer die neue Regierung bilden soll, ist offen – Klitschko hat eine Beteiligung jedenfalls abgelehnt. Aber auch die Gründung einer Arbeitsgruppe für die Änderung der Verfassung wurde angekündigt.
Nach Hause gehen wird Viktor dennoch nicht – und das ist die grundlegende Stimmung auf dem Kiewer Maidan Nesaleshnosti und in der Grushewskogo-Straße, wo Polizei und gewaltbereite Demonstranten auch am Dienstag einander unversöhnlich gegenüberstanden.
Nicht verhandelbar
„Es ist ein Schritt zurück – und zugleich einer vorwärts“, sagt Andrey. Denn am eigentlichen Auslöser der Proteste habe sich durch die Abstimmung und den angekündigten, aber noch längst nicht vollzogenen Rücktritt Azarows (er bleibt noch geschäftsführend im Amt) nichts geändert. Es sei der Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Aber zu viel sei passiert in den vergangenen zwei Wochen, seit der Verschärfung der Gesetze. Die Proteste waren eskaliert. „Die Verantwortung für den Tod von Menschen ist etwas, über das man nicht verhandeln kann“, sagt der Mittvierziger mit Palästinensertuch um den Hals. Er zweifelt an der Aufrichtigkeit der Regierung, eine echte Aussöhnung mit den Unzufriedenen zu suchen. Und ebenso verhalte es sich mit den drei führenden Oppositionspolitikern.
Diese fordern eine Beschneidung der Macht des Präsidenten und wollen die Verfassung von 2004 aus der Schublade holen – jenes Grundgesetz, das die Orange Revolution beendete. Das Gesetz teilt die Zuständigkeit für verschiedene Ministerien zwischen Premier und Präsident – die Folge waren damals bittere Grabenkämpfe zwischen dem damaligen Staatschef Juschtschenko und Premierministerin Timoschenko. „Wieso wollen sie denn so einen Schwachsinn – alles Bullshit?“, sagt Andrey. Das Projekt sei bereits gescheitert.
„Es wird alles in den Arsch gehen“, sagt er und entschuldigt sich für seine verbalen Ausfälle. Dieses Land, mit all seinen bisherigen großen und kleinen Problemchen habe jetzt ein wirklich gewaltiges Problem – und zwar die gesamte politische Elite, die Opposition mit eingeschlossen. Er deutet auf eine Reihe belebter Läden und Cafés innerhalb des Protest-Camps. „Wer weiß“, sagt er, „vielleicht wird all das morgen Kriegsgebiet sein – wer hätte das für möglich gehalten.“
Ein Anfang
„Man kann die Leute mögen oder nicht“, sagt Tanya über die Gruppe Rechter Sektor, die mit ihrem Angriff auf die Polizei vor mehr als einer Woche eine gewalttätige Wende der Proteste eingeleitet hatte. „Ich mag sie nicht, ich weiß nicht, wer hinter ihnen steht“, sagt sie. Faktum aber sei, dass sich die Staatsmacht ohne Krawalle nie zu Konzessionen bereit erklärt hätte – auch wenn die am Dienstag beschlossenen Zugeständnisse minimal seien. Alles andere als ein Rücktritt Janukowitschs, Neuwahlen sowie eine umfassende Verfassungsänderung seien nicht annehmbar. Das ist die gängige Meinung hier. Sowohl Vitali Klitschko als auch Julia Timoschenko forderten erneut den Abgang des Staatschefs.
Aber dennoch. Zunächst sorgte das Resultat der Abstimmung für verhaltene Feierstimmung. „Es ist ein Anfang“, sagt ein Demonstrant. Die Frage sei jetzt vor allem, ob auch die Regierung einen Anfang oder bereits die endgültige Lösung der Krise sehe.
Bilder des Protests am Maidan
Ohne diplomatische Zeremonien, ohne feierliches Abendessen und in nur rund drei Stunden ging der 32. EU/ Russland-Gipfel am Dienstag in Brüssel über die Bühne. Für Russlands Präsident Wladimir Putin habe es dabei, diplomatisch formuliert, „offene Worte“ seitens der EU-Spitzen geben. Ratspräsident Herman Van Rompuy sagte, man habe über „Missverständnisse“ betreffend der EU-Assoziierungsabkommen gesprochen. Die EU hat Moskau ja vorgeworfen, durch finanziellen und wirtschaftlichen Druck die Ukraine zu einem Rückzieher kurz vor Unterzeichnung des Abkommens mit Brüssel gedrängt zu haben. Nun habe man sich darauf geeinigt, auf Expertenebene über das Abkommen zu sprechen.
Moskau soll auf diesem Weg überzeugt werden, dass auch Russland von den positiven wirtschaftlichen Auswirkungen eines EU-Ukraine-Abkommens profitieren würde – ebenso wie von jenen, die Brüssel Ende 2013 mit Georgien und Moldawien unterzeichnet hat. „Wir sind gegen eine Mentalität Block gegen Block“, sagte Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso. Putin stimmte dem grundsätzlich zu: „Es ist im beiderseitigen Interesse, wenn sich unsere gemeinsamen Nachbarn wirtschaftlich gut entwickeln.“
Seinen „europäischen Freunden“ empfahl Putin aber auch, sich aus dem Machtkampf in der Ukraine rauszuhalten: „Je mehr Vermittler es gibt, desto mehr Probleme gibt es.“
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