Ukraine: "Was uns heute eint, ist die Angst"
Eine Stadt, zwei Plätze, viele Meinungen – manche sagen: viel zu viele. Auf dem Maidan Nesaleshnosti, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, steht eine Gruppe junger Männer in Gesichtsmasken, sie tragen Helme und Eisenstangen. „Das ist Krieg“, sagen sie, während ein Priester auf der Bühne des Platzes ein Gebet singt. „Ihr habt ihn angefangen“, sagt eine ältere Frau, die einen Kochtopf als Helm auf dem Kopf trägt.
Auf dem Maidan hat alles begonnen vor bald drei Monaten – als spontaner Massenprotest gegen die Regierung, gegen die Weigerung des Präsidenten, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, und gegen Polizeigewalt. Wenige hundert Meter weiter, hinter meterhohen Barrikaden, die den Maidan begrenzen, dreht sich die Geschichte dieser Revolte weiter. Am Ende der Grushewskogo-Straße, nahe dem Europaplatz, stehen Demonstranten und Polizei einander gegenüber. Unversöhnlich. Und auch hier: Drei Reihen meterhohe Barrikaden, davor eine Linie brennender Autoreifen. Auf der anderen Seite stehen die Sondereinheiten der Polizei. Wie viele Menschen auf diesen wenigen hundert Metern hinunter zum Europa-Platz seit Sonntag gestorben sind, ist nicht so klar. Die Opposition sagt, mindestens zehn. Offiziell sind es drei.
Regierungsumbildung
Zunächst ist es still hier an diesem Freitag, man hört das Feuer knistern. Waffenstillstand nennt das ein Mann mit Helm, Knieschützern, Gesichtsmaske, Eisenschild und Baseballschläger. Dann kündigt Präsident Janukowitsch an, im Eiltempo beschlossene Gesetze über die Versammlungsfreiheit zu ändern und die Regierung umzubilden. Für die Opposition und Vitali Klitschko reicht das nicht.
„Es ist klar“, so sagt ein Geschäftsmann und politischer Insider, „dass die Regierung keine großen Zugeständnisse machen wird.“ Ihr Ziel sei offensichtlich: Die Auslöschung der Protestbewegung mit allen Mitteln. Zu viel gebe es zu verlieren für die „Familie.“ „Was wir brauchen sind Sanktionen der EU.“ Nicht um Gesprächskanäle zu schließen, sondern um sie zu öffnen. Denn nur, wenn die Geldgeber hinter der Regierung um ihre in der EU geparkten Gelder fürchten müssten, könne die Regierung zu einem Einlenken gedrängt werden. Geschieht nichts, werde die Lage weiter eskalieren, sagt er.
Der politische Opposition entgleitet inzwischen die Protestbewegung. Zwei Monate waren auf dem Maidan Reden gehalten worden. Die Menschen hatten bei Schnee und Kälte ausgeharrt. Doch ohne sichtbares Resultat. Und von der EU fühlt man sich im Lager der Opposition ohnehin im Stich gelassen.
Und dann die offene Konfrontation.
„Das sind Provokateure“, sagt ein Mann um die 40 auf dem Maidan und meint den „Rechten Sektor“. Die Gruppe, ein Zusammenschluss verschiedener rechter Gruppen ohne klare Struktur, hatte am Sonntag versucht, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen, um zum Parlament vorzudringen. Es war eine gut geplante Aktion, kein spontaner Ausbruch von Frust. „Eine schwachsinnige Aktion“, sagt der Mann. „Mit Reden alleine haben wir nichts bewegt“, sagt dagegen einer, der den Straßenkampf gut heißt.
Krisengebiet
Mit der Aktion jedoch hat sich Kiew mit einem Mal in ein Krisengebiet verwandelt – auch wenn drei Straßen von Maidan und Grushewskogo nur hin und wieder durchziehende Rauchschwaden von den Vorkommnissen zeugen. Die Rede ist von Territorien unter Kontrolle der Regierung oder der Opposition. Von bewaffnetem Aufstand. Und keiner entkommt dem Umstand, sich in diesen Tagen eine Meinung über das zu bilden, was geschehen ist.
„Ich finde es furchtbar. Alles.“ In einem Bistro im Zentrum Kiews sitzt Nastja und verbringt ihre Mittagspause, während sie die Nachrichten im Internet liest und einen Kuchen isst. Die Mittdreißigerin war nicht auf dem Maidan. Sie ging lieber shoppen. Politik hätte sie nach eigenen Worten vor einer Woche noch als „notwendiges Übel“ bezeichnet. Zu Präsident Janukowitsch hatte sie keine Meinung. Heute kann sie von ihrem Büro Rauchschwaden über der Stadt aufsteigen sehen. Was sie von all dem halten soll, weiß sie nicht. Aber sie sagt: „Was dieses Land heute eint, ist die Angst.“ Die Angst vor einer Eskalation, vielleicht vor einem Krieg, vor Repressionen der Staatsorgane, vor all dem, was ein solcher oder noch größerer Konflikt mit sich bringt.
Am Nachmittag verstärken die Demonstranten in der Grushewskogo-Straße die Barrikaden. Die ältere Dame mit dem Kochtopf macht sich wieder auf den Weg. Als es dunkel wird, fliegen wieder Molotovcocktails und Feuerwerkskörper. Die „Waffenruhe“ scheint beendet.
Die USA mögen der Ukraine längst mit Sanktionen drohen, die EU setzt trotz der eskalierenden Gewalt in Kiew auf Dialog – und schaltet sich als Vermittler ein: Stefan Füle, Kommissar für Erweiterung und damit auch für die „östliche Partnerschaft“ der EU zuständig, reiste am Freitag nach Kiew. Geplant waren Gespräche mit Präsident Janukowitsch sowie mit Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft.
Der Zeitplan, den man sich in Brüssel ausgedacht hat, sieht vor, dass zunächst nur Füle vor Ort ist. Ende nächster Woche soll dann die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nach Kiew fliegen, um zu vermitteln. Schon davor könnte eine Delegation des EU-Parlaments in diplomatischer Mission in die Ukraine reisen.
Am Dienstag gibt es außerdem einen wichtigen Termin in Brüssel: Wladimir Putin kommt zum (lange geplanten) EU-Russland-Gipfel, bei dem die Ukraine ein zentrales Thema sein dürfte.
Für alle Fälle gerüstet
Mögliche EU-Sanktionen, auf die Oppositionelle in Kiew hoffen, damit der Druck auf die Regierung erhöht wird (siehe Artikel oben), stehen nicht unmittelbar bevor. „Dafür ist es noch zu früh“, heißt es in Kommissionskreisen, auch wenn Kommissionspräsident José Manuel Barroso schon Mitte der Woche verlauten ließ, die EU habe „zahlreiche Mittel zur Verfügung“, sollte die Regierung „weiter das Leben der eigenen Bürger gefährden“. Im Hintergrund wird in Brüssel an der Vorbereitung von Sanktionen gearbeitet: So werden Listen mit Personen erstellt, denen die Einreise verweigert oder Konten gesperrt werden können.
In Brüssel ist klar, dass die Beziehungen der Union zur Ukraine mit den Gewalteskalationen grundsätzlich infrage gestellt sind. Die Strategie, zunächst auf Besuchsdiplomatie zu setzen, lebt wohl auch von der Hoffnung, mit der Vermittlung Neuwahlen und damit einen Machtwechsel erwirken zu können.
Deutschlands Außenminister Steinmeier hat am Freitag wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten in der Ukraine den ukrainischen Botschafter in Berlin einbestellt.
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