Russland intensiviert Angriffe mit Langstreckenraketen

Russland intensiviert Angriffe mit Langstreckenraketen
In Charkiw geht der Beschuss durch Russland nach ukrainischen Angaben weiter.

Tag 206 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:

Russland hat nach Angaben britischer Geheimdienste in den vergangenen sieben Tagen seine Angriffe auf zivile ukrainische Ziele mit Langstreckenraketen deutlich verstärkt. Dazu zähle etwa der Angriff auf einen Staudamm in der zentralukrainischen Industriestadt Krywyj Rih, hieß es am Sonntag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums. Diese Ziele böten keinen unmittelbaren militärischen Gewinn.

Es sei wahrscheinlich, dass Moskau angesichts der Rückschläge an der Frontlinie weiter verstärkt auf solche Angriffe setze, um die Moral des ukrainischen Volkes und seiner Regierung zu unterminieren.

Russische Angriffe auf Charkiw

In Charkiw geht der Beschuss durch Russland nach ukrainischen Angaben weiter. Der Feind habe die befreiten Städte Isjum und Tschuhujiw massiv beschossen, es seien Wohn- und Geschäftsgebäude sowie Tankstellen und Produktionsanlagen zerstört worden, teilte der ukrainische Gebietsgouverneur Oleh Sinegubow am Sonntag in seinem Blog im Nachrichtendienst Telegram mit. 

In Tschuhujiw sei ein elf Jahre altes Mädchen durch den Beschuss getötet worden. Bei einer Autofahrt in der Region seien zudem zwei Frauen von einem Panzergeschoss tödlich verletzt worden.

   Sinegubow informierte am Vorabend auch darüber, dass von der Massengrabstätte in einem Waldstück in der Nähe der Stadt Isjum bisher rund 60 Leichen geborgen worden sein. Die meisten Frauen und Männer waren demnach Zivilisten. Unter den Toten waren auch zahlreiche ukrainische Soldaten. Die meisten seien eines gewaltsamen Todes gestorben, sagte er.

Selenskij: Nazi-Gräueln

Nach der Niederlage von Russlands Besatzungstruppen im Gebiet Charkiw verglich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij das Vorgehen der russischen Besatzer in seinem Land mit den Nazi-Gräueln im Zweiten Weltkrieg.

Es gebe grausamste Folter, Deportationen, verbrannte Städte, bodenlosen Hass und nichts Lebendiges mehr unter russische Besatzung, so der Präsident in einer am Samstag in Kiew verbreiteten Videobotschaft.

Zwar würden die Russen im Unterschied zu den Nazis ihre Feinde nicht zu Seife oder Lampenschirmen verarbeiten. „Aber das Prinzip ist das gleiche“, meinte der Staatschef nach mehr als sechs Monaten Krieg.

Raschismus

Selenskij bezeichnete die vor einer Woche aus dem Gebiet Charkiw geflohenen Besatzer als „Raschisten“ und sagte, so hätten sich auch die „Nazis“ verhalten. „Raschismus“ vereint die Wörter Russland und Faschismus und wird von vielen Ukrainern als Begriff für „russischer Faschismus“ benutzt.

Wie die „Nazis“ würden auch die „Raschisten“ auf dem Schlachtfeld und vor Gericht für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, sagte Selenskij.

„Wir werden die Identitäten aller ermitteln, die gefoltert und misshandelt haben, die diese Grausamkeiten von Russland hier auf ukrainisches Gebiet gebracht haben“, betonte der 44-Jährige. Bei ihrer Flucht hätten die Besatzer Foltergeräte zurückgelassen.

Ukrainische Behörden veröffentlichten unterdessen Fotos, die Folterkammern und -geräte zeigen sollen. Es seien inzwischen mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten des befreiten Gebiets Charkiw entdeckt worden, sagte er. „Folter war eine weitverbreitete Praxis in dem besetzten Gebiet.“

Nach Darstellung Selenskijs wurden Menschen mit Drähten und Stromschlägen gequält. So sei etwa auf einem Bahnhof in Kosatscha Lopan ein Folterraum mit elektrischen Folterwerkzeugen entdeckt worden.

Auch bei den in einem Waldstück nahe der Stadt Isjum gefundenen Leichen seien neue Beweise für Folter sichergestellt worden. Die Exhumierung der Toten auf der „Massengrabstätte“ sei am Samstag fortgesetzt worden, sagte Selenskij.

Heute, Sonntag, wollen ukrainische Ermittler weiter Beweise für Kriegsverbrechen nach dem Abzug von Moskaus Streitkräften sichern. In dem Waldstück nahe Isjum geht die Exhumierung der Leichen weiter. Geklärt werden sollen die Identität der Menschen und die Todesursache.

In Isjum sind mehr als 440 Gräber mit Leichen gefunden worden. Die Menschen sollen ersten Erkenntnissen zufolge ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschossen habe.

Ende März waren auch in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten - einige mit Folterspuren und gefesselten Händen - gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Selenskij kündigt Befreiung aller besetzten Gebiete an

In seinem Video kündigte Selenskij an, dass neben der Ermittlungsarbeit zur Aufklärung der russischen Verbrechen im Gebiet Charkiw das normale Leben zurückkehren solle. Die Menschen sollten Nahrungsmittel, Medikamente, Strom und ihre Renten erhalten. Auch der öffentliche Verkehr solle wieder hergestellt werden.

Zwar räumte Selenskij ein, es gebe aktuell keine „signifikanten Änderungen der Lage“ an der Front. Zugleich betonte er aber, dass alle besetzten Gebiete befreit würden - und Russland keine Chance habe.

Es sollten die Gebiete Cherson, Luhansk, Donezk samt der dortigen Großstadt Mariupol, aber auch Bedyansk in der Region Saporischschja sowie die von Russland schon 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim befreit werden. Überall werde wieder die ukrainische Flagge wehen, betonte Selenskij. „Aber wir brauchen dafür noch Zeit.“

Vor allem setzt die Ukraine auf schwere Waffen des Westens, um die russischen Besatzer aus dem Land zu drängen.

Nato wird Ukraine weiter unterstützen

Der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, sieht in der westlichen Militärhilfe und der Kriegsführung des ukrainischen Militärs entscheidende Faktoren für die jüngsten Erfolge Kiews. „Die Munition, Ausrüstung und Ausbildung, die die Verbündeten und andere Nationen liefern, machen auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied“, sagte der Niederländer am Samstag in Estlands Hauptstadt Tallinn, wo sich der Ausschuss traf, dem die Generalstabschefs der 30 Mitgliedsstaaten angehören.

„Die Nato wird die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist. Der Winter kommt, aber die Unterstützung soll unerschütterlich bleiben“, sagte er.

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