Russen auf dem Vormarsch: Tiefer Vorstoß könnte Front zum Einsturz bringen

FILE PHOTO: Ukrainian police officers try to persuade residents to evacuate in the frontline town of Pokrovsk
Binnen weniger Tage konnten die russischen Streitkräfte an einem heiklen Frontabschnitt mehr als zehn Kilometer vorstoßen – den ukrainischen Streitkräften droht ein Desaster und die Aufgabe weiterer Städte.

Während der Fokus der Weltöffentlichkeit auf dem wahrscheinlich fruchtlosen Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kremlchef Wladimir Putin liegt, ist den russischen Streitkräften in den vergangenen Tagen ein Erfolg am Schlachtfeld gelungen, dessen Auswirkungen für die ukrainischen Streitkräfte fatal werden können: Nördlich der Stadt Pokrowsk brachen russische Truppen mehr als zehn Kilometer tief in die ukrainischen Stellungen ein, durchbrachen wahrscheinlich die Verteidigungslinie und rückten bis knapp zur Ortschaft Dobropillja (siehe Grafik) vor.

Russischer Vormarsch in der Ukraine

Russischer Vormarsch in der Ukraine

Einen solch raschen Vorstoß an einem so heiklen Frontabschnitt gab es zuletzt im Mai vergangenen Jahres, nachdem russische Verbände nach der Eroberung Awdiiwkas eine massive Schwachstelle in den ukrainischen Stellungen gefunden hatten. Als Folge dessen waren sie in der Lage, bis zur Stadt Pokrowsk vorzurücken – mit dem jüngsten Vorstoß könnte es ihnen gelingen, nicht nur Pokrowsk zu erobern, sondern auch die Stadt Kostjantyniwka – und mit Kramatorsk die letzte große Stadt in der Region Donezk zu belagern.

Noch ist nicht zu hundert Prozent klar, ob die russischen Streitkräfte diesen geschaffenen Brückenkopf halten und ausbauen können, die Vergangenheit zeigt aber, dass solche Aktionen meist erfolgreich waren. Etwa als die Russen im Frühjahr 2022 die erste ukrainische Verteidigungslinie bei der Ortschaft Popasna durchbrechen konnten. Die Eroberung der Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk war eine unmittelbare Folge davon. Mit der jüngsten Operation konnten die russischen Streitkräfte die dritte ukrainische Verteidigungslinie durchbrechen – es ist fraglich, wie gut die Stellungen dahinter befestigt sind.

Kritik an Führung

Denn ersten Berichten zufolge gelang dieser russische Vorstoß vor allem deshalb, weil viele Stellungen zum größten Teil leer gewesen sein sollen, als die russischen Streitkräfte, die eigentlich Druck in Richtung Westen aufbauten, plötzlich nach Norden vordrangen. Die Kritik daran wird vor allem innerhalb der ukrainischen Streitkräfte laut – man wirft der politischen, aber auch militärischen Führung Fehlplanungen vor.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Russen vor dem Angriff über eine starke Aufklärung verfügten. Zuerst drangen Sabotagegruppen in die leeren Räume vor, später ganze Einheiten von Soldaten. Dienstagmittag wurde bekannt, dass Kiew Reservegruppen in Form des 1. Asow-Korps zur neu entstandenen Front schickte, um einen vollständigen russischen Durchbruch zu verhindern. Ob das gelingen wird, ist derzeit unklar. Im für die Ukraine schlimmsten Fall erobern die russischen Streitkräfte die Straße von Dobropillja nach Kramatorsk und könnten damit den Grundstein für massive Geländegewinne legen. 100.000 Soldaten sollen die russischen Streitkräfte allein im Raum Pokrowsk zusammengezogen haben.

Dadurch wird der Druck auf die etwa 30.000 ukrainischen Soldaten in der Stadt immer größer: Die einzige verbliebene Versorgungsstraße könnte bald von zwei Seiten im russischen Feuerbereich liegen, was in letzter Konsequenz zu einer Einkesselung führen könnte. Ähnlich wie in Kursk Anfang des Jahres, als der einzige Versorgungsweg von russischen Drohnen kontrolliert wurde. Die Konsequenz: Nur etwa jedes zweite Fahrzeug schaffte die Strecke, ohne vernichtet zu werden. 

Ähnliches könnte auch den etwa 50.000 ukrainischen Soldaten bei Kostjantyniwka drohen. All das ist derzeit nur eines von mehreren Szenarien. Wird es aber Wirklichkeit, dürften die Ukrainer bis Ende des Jahres die letzte verbleibende größere Stadt in Donezk verteidigen. Und die Tatsache, dass seine Truppen – wenn auch nach wie vor unter hohen Verlusten – deutlich auf dem Vormarsch sind, dürfte Wladimir Putin eher nicht dazu bewegen, einer Waffenruhe zuzustimmen.

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