Kiew blockiert russischen Hilfskonvoi

Die Ukraine will die 280 Lkw nicht ins Land lassen. Auch Frankreich hegt Zweifel an der Hilfslieferung.

Gerangel um jenen russischen Hilfskonvoi, der Dienstagfrüh in die Ostukraine aufgebrochen ist: 280 Lkw mit Hilfsgütern waren in der Nähe der russischen Hauptstadt Moskau gestartet - sie sollen mit Hilfsgütern für die Bevölkerung in der Ostukraine beladen sein. Allein, die Ukraine will den Konvoi nicht ins Land lassen: Hieß es am Montagabend noch, Kiew und Moskau hätten sich über die Lieferung geeinigt, so ließ die Präsidentschaftskanzlei am Dienstag ausrichten, dass man die Lkw an der Grenze abstoppen werde.

Umladung

Die Ladung werde an der russisch-ukrainischen Grenze auf Lastwagen des Internationalen Roten Kreuzes umgeladen, so Waleri Tschalyj, der Vizechef der ukrainischen Präsidentschaftskanzlei. Laut Tschalyj, der den Begriff "humanitärer Konvoi" ablehnt, werde das Rote Kreuz für diesen Transport eigens Lastwagen anmieten: "Es wäre problematisch russische Lastwagen – selbst ohne Fahrer – auf ukrainischem Territorium zuzulassen." Die Ladung selbst werde die russisch-ukrainischen Grenze zwischen Belgorod und Charkiw (Charkow) passieren und dort von ukrainischen Behörden kontrolliert werden.

Die ukrainische Grenzregion Charkiw steht bekanntlich vollständig unter Kontrolle der Regierung in Kiew. Für den weiteren Transport ist laut Tschalyj ausschließlich das Rote Kreuz verantwortlich - über die Inhalt jener 280 weißgefärbten Lastwagen konnte Tschalyj keine Angaben machen – Kiew habe dazu keine offiziellen Informationen und aus Russland auch keine Listen bekommen. Bis die Lastwagen an der Grenze zur Ukraine eintreffen, dürfte es allerdings mehrere Tage dauern - sie müssen eine Strecke von rund 1.100 Kilometern zurücklegen.

Frankreich hegt Zweifel

Im Westen hegt man Zweifel an der Absicht, die Moskau damit verfolgt: Nach Einschätzung Frankreichs könnte der Konvoi auch ein Deckmantel für eine dauerhafte Präsenz in der Region sein. "Wir müssen außerordentlich vorsichtig sein", sagte Außenminister Laurent Fabius im Radioender France Info. Es könne sein, dass sich auf diesem Wege Russen in der Nähe der Rebellenhochburgen Donezk und Luhansk (Lugansk) in Stellung brächten und den Westen vor vollendete Tatsachen stellten. Der Hilfskonvoi sei nur möglich, wenn das Rote Kreuz ihn genehmige, sagte Fabius.

Das ukrainische Parlament hat indessen ein Sanktionspaket gegen Russland in erster Lesung verabschiedet. Die Oberste Rada nahm eine von Regierungschef Arseni Jazenjuk vorgelegte Liste von 65 Firmen und 172 Einzelpersonen aus Russland und anderen Staaten am Dienstag an. Unklar war zunächst, ob Strafmaßnahmen die Energieunternehmen Gazprom und Transneft betreffen.

Dies könnte einen Stopp russischer Öl- und Gaslieferungen nach Westeuropa zur Folge haben. Die EU hatte das wichtige Transitland vor einem solchen Schritt gewarnt. Die Oberste Rada könnte noch am Dienstag in zweiter Lesung über das Gesetz entscheiden. In erster Lesung stimmten 238 der 338 Abgeordneten zu.

Weitere 2,5 Millionen Euro aus Brüssel

Die EU-Kommission hat am Dienstag weitere 2,5 Millionen Euro zur humanitären Hilfe in der umkämpften Ostukraine locker gemacht. Mit dem Geld sollen Binnenflüchtlinge in der Ukraine registriert und neu angesiedelt werden, teilte die EU-Kommission mit. Weiters sollen damit Notunterkünfte, Lebensmittel, Wasser, Medizin und psycho-soziale Unterstützung für die Flüchtlinge finanziert werden. Die zuständige EU-Katastrophenschutz-Kommissarin Kristalina Georgiewa warnte Russland im Zusammenhang mit dem geplanten russischen Hilfskonvoi. Jede Hilfslieferung müsse mit den Prinzipien der Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit vereinbar sein. "Die Souveränität der Ukraine muss geschützt werden."

Luhansk wird eingekesselt

Im Osten der Ukraine werden infolge der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten vor allem in Donezk und Luhansk Lebensmittel und Wasser immer knapper - auch die USA haben einer Hilfsaktion zugestimmt (mehr dazu hier). Nach Donezk will die ukrainische Armee nun auch die zweite Rebellenhochburg militärisch einkesseln. "Die Streitkräfte planen, den Kämpfern die Wege nach Russland abzuschneiden und Luhansk endgültig zu umstellen", teilte die Einsatzführung am Dienstag mit.

Nach Armeeangaben gab es zudem einen "Angriff" mit Fallschirmjägern auf von Rebellen kontrolliertem Gebiet, der den Aufständischen am Montag "schwere Verluste" zugefügt habe. In der Ostukraine bekämpfen sich seit Monaten Regierungstruppen und prorussische Separatisten, die sich vor allem in den selbsterklärten "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk verschanzt halten.

Die ukrainische Armee soll inzwischen eine strategisch wichtige Verbindungsstraße zwischen Gorlowka und Donezk erobert haben. "Das Militär setzt dort Artillerie und Luftwaffe ein", sagte der Militärexperte Dmitri Tymtschuk am Dienstag in Kiew. Die prorussischen Aufständischen bestätigen den Geländegewinn der Regierungstruppen in der Region. Allerdings sei bei Krasny Lutsch ein Teil der Armee eingekesselt, behauptete ein Separatistensprecher.

Alltag in Trümmern

Nicht nur, dass ihr (militärisches) Ende nahe scheint – in den Rängen der pro-russischen Separatisten in der Ostukraine tut sich angesichts der derzeitigen Bedrängnis vor allem eine Frage auf: Wie pro-separatistisch ist eigentlich Russland? Zwar sickert wie schon bisher nach wie vor Nachschub zu den Kämpfern in der Ostukraine. Was die aber derzeit brauchen – und auch einfordern –, ist kein Tröpfeln von, sondern ein Strom an Waffen. Oder besser: gleich eine Invasion.

Militärisch ist der Krieg zwischen der Regierung in Kiew und den russophilen Neurussen im Osten des Landes aus Moskaus Sicht an einen Punkt gekommen, an dem sich entscheidet: Aufgeben und eine Niederlage kassieren oder einen offenen Krieg starten. Eine Niederlage ist aber aus Sicht des Kreml existenzbedrohend.

Denn damit würde ein gigantisches Propaganda-Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Monatelang war der russischen Öffentlichkeit eingetrichtert worden, wer gut und wer böse ist in diesem Konflikt, und dass man sich zur Wehr setzen müsse gegen "Blackwater, die CIA & Co", die sich gegen Russland verschworen hätten. Moskau hat sich die Krim einverleibt, ohne nennenswerten internationalen Protest, im Osten der Ukraine kämpfen groß-russische Milizionäre. All das mit offener Unterstützung durch Netzwerke in Russland. 20.000 bis 40.000 russische Soldaten sind zugleich an der Grenze zusammengezogen worden. Wenn dieses Projekt jetzt also scheitert, die so vielfach beschworenen Feinde (EU, NATO, USA, CIA, die "Kiew-Junta") siegen, brächte das Putin in Erklärungsnot – und sein Image als Macher und Sieger würde einen Dämpfer erhalten.

Dem aber nicht genug. Mit der Idee Neurusslands hat sich ein Konstrukt artikuliert, das zwar alles andere als neu ist, das aber von Menschen geträumt wird, die eine wachsende Macht in Russland darstellen: Traditionalisten und Nationalisten, die zum Teil schon bisher militärisch organisiert waren, jetzt aber über echte Kampferfahrung verfügen. Schon bisher hatte die russische Polizei ungewohnt zurückhaltend und nahezu verängstigt reagiert, wenn diese Gruppen etwa in Moskau im vergangenen Sommer gegen Kaukasier wüteten.

Putins Umfragehoch

Die Einverleibung der Krim war in diesen Kreisen besonders laut bejubelt worden – und mit ihr Putin. Jetzt aber sind es genau diese Leute, die für eine offene russische Intervention eintreten – und Putin zunehmend für sein Zögern geißeln. Zugleich sind es militärische Abenteuer, die Putins Umfragewerte beflügeln: Derzeit liegt er bei einer Zustimmungsrate von 87 Prozent und damit praktisch gleichauf mit seinem Umfragerekord während der Georgien-Krise 2008.

Ein Krieg aber würde im Fall der Ukraine wohl wirtschaftlich massive Folgen haben – und in der russischen Geschichte gibt es ein Kontinuum: Eine kritische Masse erreichten Oppositionsbewegungen immer dann, wenn es wirtschaftlich eng wurde.

Seit Monaten toben die Kämpfe zwischen Separatisten und der Armee in der Ostukraine. Das Militär meldete zahlreiche Gebietsgewinne, nun sollen auch die letzten Hochburgen der Separatisten Donezk und Luhansk (Lugansk) fallen. Der Journalist und Dolmetscher aus Lwiw (Lemberg), Juri Durkot, warnt im Gespräch mit der APA: "Die Erfolge (der ukrainischen Armee, Anm.) machen die Situation gefährlicher."

Der russische Präsident Wladimir Putin sei "zur Geisel der eigenen Politik geworden". "Er kann sich nicht mehr leisten zu verlieren." "Die nächste Tage sind ganz, ganz kritisch."

Eindeutige Erfolge

Die ukrainische Armee habe in den vergangenen zwei Monaten "eindeutig Erfolge" verzeichnet und mehr als die Hälfte des von pro-russischen Separatisten gehaltenen Gebietes zurückerobert. Die militärischen Erfolge seien jedoch wie eine "Hydra", weil auf jeden Fortschritt der Armee neue Waffenlieferungen und Kämpfer aus Russland folgten.

Der Experte spricht von einer "Spirale", aus der Putin "nicht ohne Imageverlust wieder raus" komme. "Putin ist entschlossen, weiterzumachen", so Durkot. Andernfalls würde er auch in Gefahr laufen, seine "Machtstellung zu gefährden". Trotz der Sanktionen befinde sich Russland in einem "neuimperialistischen Wahn".

Durkot sieht nun mehrere mögliche Möglichkeiten, wie Russland auf die Erfolge der ukrainischen Armee reagieren könnte. Einerseits könnte Putin auf den Winter setzen. Die Probleme für die ukrainische Wirtschaft nehmen zu - die Kosten des "Anti-Terror-Einsatzes" werden mit etwa einer Milliarde US-Dollar (746,94 Mio. Euro) beziffert - viele Unternehmen im Donbass stehen still oder sind zerstört. Im Herbst soll in der Ukraine gewählt werden, die "Einheit der Elite" könnte das gefährden. Außerdem sei eine Einigung zwischen Kiew und Moskau über den Gaspreis nicht realistisch. "Ganz ohne russisches Gas steht der Ukraine ein harter Winter bevor", warnt Durkot, dass Putin auch auf "soziale Unruhen in der Ukraine setzen" könnte. Auch die Zahl der Flüchtlinge aus dem Donbass wachse.

Invasion möglich

Ein andere Strategie für Russland könnte eine militärische Invasion in der Ostukraine sein. An der Grenze zur Ostukraine seien 22.000 russische Soldaten stationiert, auf der annektierten Schwarzmeerhalbinsel Krim 20.000. Erstere könnten schwer über lange Zeit in Kampfbereitschaft erhalten werden. Ob der Einmarsch aber tatsächlich erfolge, sei derzeit noch "Spekulation". "Man weiß nicht, was in seinem (Putins, Anm.) Kopf vorgeht", meint der Experte.

Eine weitere Option, auf die ukrainischen Gebietsgewinne zu reagieren, sei eine "massive Unterstützung" der Separatisten. Es gebe "genug Freiwillige" in Russland, die zum Kampfeinsatz bereit seien, auch aus Tschetschenien, Abchasien, Ossetien, "Fanatiker und Söldner". Etwa 15.000 Kämpfer aus Russland würden sich mittlerweile in der Ostukraine befinden. Die russische Unterstützung für die Separatisten sei nach dem Abschuss der Passagiermaschine MH17 mit fast 300 Opfern - der auch in Moskau Schock ausgelöst habe - "nur kurz" zurückgefahren worden. Russland könne nicht alle kämpfende Gruppen in der Ostukraine kontrollieren. Diese "haben keine gemeinsame Position. Es gibt auch Schießereien zwischen den Rebellen".

Auch die mutmaßlichen Luftangriffe der ukrainischen Armee auf Donezk seien "schwer einzuschätzen". "Die russische Propaganda ist unglaublich, der Propagandarausch gefährlich. Bei den ukrainischen Quellen muss man auch oft vorsichtig sein. Selbst wenn man dort (im Konfliktgebiet, Anm.) ist, hat man nicht den vollen Überblick", erläutert Durkot.

Mehr als 3000 Tote

Im Zuge der Kämpfe seien etwa 1.600 russische Rebellen gefallen - russische Medien würden allerdings geschlossen nicht über getötete Rebellen berichten. Die ukrainische Armee habe etwa 400 Todesopfer zu beklagen. Die UNO spricht von 1.100 getöteten Zivilisten, nennt Durkot Schätzungen.

Von den Gesprächen in Weißrussland erwartet sich der Experte keine "richtigen Durchbrüche". Die Initiative geht seiner Einschätzung nach auf Weißrussland zurück. Der autoritäre weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko versuche einen Balanceakt - "Lukaschenko laviert vorsichtig hin und her" - zwischen Russland und der Ukraine. Einerseits habe er die russische Annexion der Krim nicht akzeptiert, anderseits auch nichts dagegen gesagt. Die ukrainische Revolution mit all ihren Folgen versuche er in Weißrussland als abschreckendes Beispiel zu nutzen. Anderseits fürchte Lukaschenko, "wenn die Russen durchdrehen, dann könnte auch Weißrussland Ziel ihrer Begierde sein oder seine Position gefährden".

Die EU-Sanktionen gegen Russland - zu denen es "keine Alternative" gebe - würden ihre Wirkung "erst später" zeigen. Das Problem laut Durkot sei, das sich Russland "von Anfang an auf stur gestellt" hat. "Man kann nicht sagen, wir verhängen keine Sanktionen, weil Russland nicht reagiert."

Gefragt, ob es nun ein Wiedererstarken des wirtschaftsliberalen Flügels im Kreml gibt, dass sich die Realpolitiker wieder mehr gegen die eurasischen Ideologen behaupten, meint der Experte: "Die Oligarchen wollen auf jeden Fall nicht von Europa isoliert sein. Sie haben aber im Moment keinen politischen Einfluss." Die russische Elite könne allerdings gegen die Kreml-Politik Druck ausüben. Nur die städtische Bevölkerung sei stark genug für Unmutsäußerungen, auf dem Land sei das nicht möglich. Russland könne durch gelenkte Medienberichterstattung durch die Sanktionen ausgelöste oder verstärkte (soziale) Probleme "immer auf westliche Mächte schieben".

Auch zum Abschuss der MH17 meinten Russen in Umfragen des russischen Meinungsforschungsinstitut Levada (Lewada) mehrheitlich (zu etwa 70 Prozent), dass Ukrainer oder Amerikaner dahinter stünden. Lediglich zwei Prozent sehen Separatisten dahinter. Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU habe zuletzt erklärt, dass die Russen einen Aeroflot-Flug Moskau-Larnaka (Zypern) über der Ostukraine haben abschießen wollen, um den Weg für einen russischen Einmarsch in der Ostukraine freizumachen. Die Rakete sei jedoch vor dem Abschuss an die falsche Stelle geschoben worden.

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