Ex-Premier setzte sich nach Österreich ab

In Kiew berichtet indes ein verschleppter Aktivist von Folter und Misshandlungen.

Mykola (Nikolai) Azarow, Ex-Regierungschef der Ukraine, soll sich nach Österreich abgesetzt haben. Das berichtet die Kronen Zeitung online. Mit seinem Privatjet habe er sich demnach zu seinem Sohn nach Wien bringen lassen. Die ukrainische Botschaft in Wien wollte die Angaben auf APA-Anfrage nicht bestätigen. "Wir haben dazu offiziell keine Informationen", so eine Sprecherin. Laut Krone hat Asarow angeblich vor, "für eine längere Zeit in Wien unterzutauchen". Bereits seit Tagen machten Gerüchte die Runde, nach denen ein angemieteter Jet aus Wien in Kiew für Azarow abgestellt gewesen sein soll.

Azarow war am Dienstag als Regierungschef zurückgetreten.

Klitschko warnt vor Ausnahmezustand

Der ukrainische Oppositionspolitiker Vitali Klitschko hat vor seinem Besuch bei der Sicherheitskonferenz in München erneut vor einem Ausnahmezustand in seiner Heimat gewarnt. "Wenn ich heute ins Flugzeug zur Sicherheitskonferenz nach München steige, dann tue ich das mit einem mulmigen Gefühl", schreibt Klitschko in einem Gastbeitrag für die Bild-Zeitung (Freitag-Ausgabe).

"Aggressive Stimmung"

Die Situation in Kiew habe sich alles andere als beruhigt. "Gestern ließ sich der Präsident (Viktor Janukowitsch) mit angeblichem Fieber ins Krankenhaus einweisen, in der Nacht vorher hatte ich ihn noch völlig gesund und in einer aggressiven Stimmung im Parlament erlebt. Ich denke, die Gefahr war noch nie so groß, dass er den Ausnahmezustand wirklich verhängt. Janukowitsch steht mit dem Rücken zur Wand - und ihm ist wirklich alles zuzutrauen." Die USA erwägen Sanktionen gegen die Führung der früheren Sowjetrepublik.

Der Machtkampf in der Ukraine tobt trotz neuer Zugeständnisse der Führung ungebrochen weiter. Die Opposition weigert sich, besetzte Gebäude zu verlassen und ignoriert damit die Bedingungen der Amnestie für festgenommene Demonstranten. Gleichzeitig kündigte sie weitere Proteste an.

Amnestiegesetz unterzeichnet

Janukowitsch hat am Freitag die besagte Amnestieregelung unterzeichnet. Zugleich setzte er die Einschränkung des Demonstrationsrechts außer Kraft, wie auf der Internetseite der Präsidentschaft mitgeteilt wurde. Das Parlament hatte das Amnestiegesetz am Mittwoch beschlossen. Die Opposition boykottierte die Abstimmung, da im Gegenzug für die Freilassung der inhaftierten Demonstranten ein Ende der Proteste und die Räumung besetzter Gebäude binnen 14 Tagen verlangt wird.

Erpressungsvorwurf

Nach Dafürhalten der Opposition hat die regierende Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch bei der Abstimmung erpresst, betrogen und gefälscht. "Alle Masken sind gefallen. Es ist offensichtlich, dass die Mehrheit im Parlament den Konflikt weiter anheizt anstatt die Krise friedlich beizulegen", heißt es weiter in einer Mitteilung. Janukowitsch habe mit Erpressung und Einschüchterung die Fraktion zur Annahme des Gesetzes gezwungen.

Seit Beginn der gewaltsamen Proteste sind nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft landesweit bisher 234 Demonstranten festgenommen worden. 140 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft oder stehen unter Hausarrest. Alle in den vergangenen zwei Wochen Festgenommenen würden voraussichtlich unter die beschlossene Amnestie fallen, hieß es in Kiew.

Armee warnt vor Eskalation der Krise

Das ukrainische Militär warnte am Freitag - wie zuvor auch schon Oppositionsführer Klitschko - vor einer weiteren Eskalation der schweren Krise. Die Besetzung staatlicher Gebäude durch Demonstranten sei unzumutbar. Indes wurde ein entführter, schwer misshandelter Regierungsgegner gefunden.

Kurz gegen Sanktionen

Außenminister Sebastian Kurz hält wie die meisten seiner Kollegen innerhalb der EU nichts von Sanktionen gegen die ukrainische Führung: "Sanktionen wären eher ein Schritt in Richtung einer weiteren Spaltung und würden nur Öl ins Feuer gießen", so Kurz Freitagabend am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz in der ZiB 2.

Die Rücknahme der umstrittenen Gesetze zur Einschränkung demokratischer Freiheiten durch Präsident Viktor Janukowitsch sei "ein wichtiger erster Schritt", lobte Kurz und verwies auf die geografische Lage des krisengeschüttelten Landes: "Die Ukraine ist ungefähr so weit von Wien entfernt wie die Schweiz", meinte der Minister. Jegliche Maßnahmen, die eine weitere Spaltung der Ukraine zur Konsequenz haben könnten, brächten auch "dramatische Auswirkungen auf seine Umgebung."

Die Opposition beklagt, dass etwa 30 Aktivisten verschleppt worden seien, angeblich von angeheuerten Schlägerbanden. Acht Tage nach seinem Verschwinden wurde ein entführter Regierungsgegner schwer misshandelt gefunden. Seine Peiniger hätten ihn massiv gefoltert und einen Teil seines Ohrs abgeschnitten, berichtete der Aktivist Dmitri Burlatow. "Sie haben mich gekreuzigt. Sie haben meine Hände durchstoßen", so Burlatow im Fernsehen. Er zeigte dabei die Wunden an seinen Handrücken. "Sie haben mein Ohr abgeschnitten, mein Gesicht zerschnitten. Es gibt keine einzige heile Stelle an meinem Körper. Aber Gott sei Dank bin ich am Leben." Oppositionsführer Vitali Klitschko bezeichnete die Folter des Demonstranten nach einem Besuch als Versuch, alle Aktivisten einzuschüchtern.

Bulatow wurde seit dem 23. Jänner vermisst. Er hatte sich an mehreren Autokorsos beteiligt, die zu den Wohnsitzen der ukrainischen Spitzenpolitikern führten. Nach Auskunft eines Freundes wurde er von seinen Peinigern im Wald ausgesetzt und habe sich aus eigener Kraft in ein Dorf gerettet. Inzwischen wird er in einem Krankenhaus behandelt.

Menschenrechtler kritisierten auch, dass Polizeieinheiten während der Straßenschlachten mit radikalen Regierungsgegnern absichtlich auch Journalisten und Ärzte angegriffen hätten. Die UNO forderte am Freitag eine unabhängige Untersuchung der Berichte über Entführungen und Folter in der Ukraine.

Gewalt gegen Journalisten

In der gegenwärtigen Krise sehen sich auch Journalisten massiver Gewalt ausgesetzt. Bisher seien mehr als 70 Journalisten in der Ukraine angeschossen und geschlagen worden, sagte James Wilson vom "EU-Ukraine Business Council" am Freitag in Brüssel. "Die offizielle Politik zielt auf Journalisten ab." Häufig sei auch die Kamera-Ausrüstung von Journalisten zerstört oder Presseausweise gestohlen worden, sagte Wilson. Viele Reporter seien durch die von Polizeikräften eingesetzten Gummigeschoße am Kopf oder Körper verletzt worden oder hätten ein Auge verloren. Die Einsatzkräfte würden auch von Paramilitärs ("Tituschki") unterstützt.

Bis zum heutigen Tag seien im gegenwärtigen Machtkampf in der Ukraine sechs Menschen getötet und rund 2000 verletzt worden, sagte Wilson. 30 Personen würden vermisst, 116 seien verhaftet worden.

Wegen der hohen Konzentration auf dem ukrainischen Medienmarkt, der in der Hand weniger Geschäftsleute sei, und der geringen Zahl an Auslandskorrespondenten in dem Land seien soziale Medien im Internet besonders wichtig geworden, sagte Wilson.

Ernest Sagaga, zuständig für Menschenrechtsfragen bei der "International Federation of Journalists" appellierte an die EU, sich für Pressefreiheit in der Ukraine einzusetzen. Seine Organisation habe auch sorge, dass im Zuge einer Amnestie-Regelung Verantwortliche für Gewalt gegenüber Journalisten nicht zur Rechenschaft gezogen würden.

Ein ranghoher EU-Beamter bezeichnete die Lage in der Ukraine in Hinblick auf die massiven Menschenrechtsverletzungen als "schlimmer als in Weißrussland". Menschen würden von Spezialeinheiten zusammengeschlagen, in Kiew herrsche eine Atmosphäre der Angst.

Bisher hat die EU immer betont, dass sie sich weiter um eine Lösung in der Ukraine bemühen will. Die Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton hat sich gegen die Verhängung von Sanktionen gegen die ukrainische Regierung ausgesprochen.

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