Die Zeit spielt für die Führung

Appell an Sicherheitskräfte in Kiew, nicht zuzuschlagen.
Weiterhin Proteste - allerdings ist die Opposition sehr schwach. Warnung vor „Partisanenkrieg“.

Auf Bannern und Transparenten steht die Botschaft: „Nach Europa“. Wichtiger Nachsatz: „Ohne Janukowitsch“. Was als Marsch gegen die Entscheidung der Regierung, sich doch nicht mit der EU einzulassen, begonnen hatte, ist längst zu einem Aufstand gegen die Regierung selbst geworden. Nach der Eskalation der Proteste geht es den Hunderten und Tausenden Protestierenden in den Straßen ukrainischer Städte jetzt vor allem um eines: „Die Regierung muss weg“, wie es ein junger Mann knapp ausdrückt. Koste es, was es wolle. Bloß, dem Protest mangelt es an Führung.

Von einer sehr gefährlichen Situation spricht ein Angehöriger des ukrainischen Geheimdienstes SBU, der nicht namentlich genannt werden möchte und nach eigenen Worten mit den Protestierenden sympathisiert. Vor allem im Westen des Landes hätte die Polizei geschlossen Befehle verweigert, Proteste niederzuschlagen. Ein Phänomen, das sich durch alle Bereiche des Sicherheitsapparats ziehe. Sowohl in der Armee, in den Einheiten des Innenministeriums als auch im Geheimdienst SBU. Das vor allem auf unterer und in Einzelfällen bis in die mittlere Befehlskette. Die Regierung habe jedoch nach wie vor die Kontrolle über den Staat und lasse die Dinge derzeit eben laufen. Die Zeit, so der Mann, spiele für die ukrainische Führung.

Um den Unabhängigkeitsplatz in Kiew zeigt sich der Riss durch den Sicherheitsapparat vor allem in einem: In launigen Gesprächen zwischen einfachen Polizisten und Protestierenden. „Die sind harmlos, die gehören zu uns“, so der Kommentar eines Demonstrierenden. Aber, die Gewissheit, dass eine Lösung der gegenwärtigen Krise mit jedem Tag komplizierter wird, nagt auch hier zwischen den Zelten und an den Lagerfeuern auf den Maidan Nesaleschnosti an der Moral. Kalt ist es, und die Aussicht auf eine gewalttätige Konfrontation mit Spezialeinheiten, schreckt viele ab - noch mehr, seitdem das Ultimatum ausgesprochen ist, dass die Demonstranten nach fünf Tagen alle öffentlichen Gebäude zu räumen hätten.

Keine friedliche Lösung

An eine friedliche Lösung glaubt, der SBU-Mann jedenfalls nicht. Zu viel hätten die, wie er es nennt, „Gangster“ an der Staatsspitze zu verlieren. Und eine Eskalation bis hin zu einem, wie er sagt, „Partisanenkrieg“ sei durchaus im Bereich des Möglichen. Zu viele Menschen seien zu radikalen Maßnahmen bereit. Auch er. Wenn auch alle durchwegs eine friedliche Lösung anstrebten. Aber die Spitzen der Opposition seien zu schwach.

Und viel ist passiert in den Tagen seit dem Einschreiten der Berkut. Menschen wurden verletzt, verhaftet, in Schnellverfahren verurteilt und schließlich werden bis zu 30 Menschen vermisst.

All das, während das Leben wenige Straßen vom Maidan entfernt, ganz normal weitergeht, als wäre nichts. Menschen gehen zur Arbeit, warten genervt vor den Kassen der Supermärkte und gehen ins Kino. Einer der Unbeteiligten sagt: „Ich kann mich darum nicht kümmern, ich muss mein Geld verdienen – und werde es tun, solange es irgendwie geht.“

Eindrücke aus der belagerten Hauptstadt

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