Beide Seiten ohne Strategie
Das Justizministerium, unweit vom Maidan, war ein leichtes Ziel. Die Polizisten versuchten erst gar nicht, groß Widerstand zu leisten, als es in der Nacht auf Montag gestürmt wurde. Im Gebäude nebenan waren Arbeiter am Tag danach beschäftigt, Auslagen zu verbarrikadieren. „Zur Sicherheit“, wie einer sagt. „Man weiß ja nie.“ Das Kino in der Straße ist seit Tagen geschlossen – so, wie immer mehr Geschäfte und Lokale an möglichen Eskalationspunkten. Hinter dem Ministerium wurden neue Barrikaden errichtet. Vor dem Gebäude Männer mit Knüppeln postiert.
Mit dem Sturm auf das Ministerium hatte sich die Lage in Kiew einmal mehr zugespitzt. Justizministerin Olena Lukash hatte damit gedroht, den Nationalen Sicherheitsrat um die Verhängung des Ausnahmezustandes zu bitten. Eine Maßnahme, die seit Tagen im Raum steht.
Schließlich wurde das Ministerium nach Vermittlungen von Oppositionspolitiker Vitali Klitschko geräumt. Die maskierten Männer vor dem Gebäude blieben jedoch auf Position. Die Opposition versucht, die Kontrolle über die Protestbewegung zurückzugewinnen. Ein schwieriges Unterfangen. Das, während im gesamten Land Regierungsgebäude überrannt werden – auch im Osten, der Hochburg der Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch.
„Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem es für alle Seiten ums Überleben geht“, so Maksim Butkevych, ein Menschenrechtsaktivist. Er meint Regierung, Protestbewegung und politische Opposition. Das Land sei zutiefst gespalten: jene hinter den Barrikaden und jene vor den Barrikaden. Politische Positionen sind nebensächlich geworden. Eine klare Strategie der Opposition, die gibt es nicht.
Ähnlich planlos scheinen aber auch die Behörden zu sein. Klar aber sei, so Butkevych, dass die Regierung in ihrem Bemühen, den Protest niederzuschlagen, bereits sehr weit gegangen sei. „Ich weiß nicht, ob es etwas gibt, dass sie nicht tun würden, um an der Macht zu bleiben.“
Ungeliebte Rechte
Sorgen bereiten liberalen und linken Aktivisten jedoch zunehmend die Umtriebe rechter Gruppen auf dem Maidan. Vor allem auch wegen des Rechten Sektors als undurchsichtiges Netzwerk verschiedener rechter bis ultranationalistischer Organisationen. Der bietet der Führung einen willkommenen Vorwand, die Protestbewegung als faschistoide Horde zu diskreditieren.
Auch Linke, Liberale und rechte ohne faschistische Agenda befinden sich im Protestlager. Aber keiner frage mehr, ob man Linksaktivist, Patriot oder Ultranationalist sei, solange man kämpfe.
Zaghaftes Annähern
Montagabend keimte leichte Hoffnung auf: Janukowitsch und die Opposition haben nach Angaben der Präsidentschaft bei ihren Krisengesprächen in mehreren Punkten Einigkeit erzielt. Beide Seiten sollen sich unter anderem darauf verständigt haben, die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit wieder abzuschaffen.
Außerdem sei eine Amnestie für festgenommene Regierungsgegner vereinbart worden, allerdings unter der Bedingung, dass die von Aktivisten besetzten Regierungsgebäude und die Barrikaden in den Straßen geräumt würden.
Erweiterungskommissar Stefan Füle wurde in Kiew erwartet. Am Dienstag soll EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ankommen – zwei Tage früher als geplant. Doch je länger der Konflikt anhält, desto schwieriger wird der Stand der EU in der Krise. „Die EU hat ihre Karten verspielt, wir rechnen nicht mehr mit ihrer Unterstützung“, so ein junger Mann auf dem Maidan. Und Butkevych sagt: Gerade die Untätigkeit der EU bereite den Weg für ein noch gewalttätigeres Szenario. Die Forderung: Die EU solle Sanktionen verhängen. Gezielte Sanktionen, wie immer betont wird. Der entscheidende Punkt ist, so Butkevych: „Es geht um Business und nicht um Macht.“ Und zu viel Geld hätten die Unternehmer hinter der Staatsmacht in Westeuropa geparkt, um sich mit Europa anzulegen: „Sie werden nichts unterstützen, was die Ukraine von Europa abtrennt.“
Blder des Protests am Maidan
Protokoll und Etikette bieten viel Spielraum, Missfallen in nicht-verbaler Form auszudrücken. Der Gipfel Russland/EU beweist das: Die Gastgeber in Brüssel – Kommissionschef José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman van Rompuy – hatten das traditionelle Arbeitsessen am Vorabend ganz gestrichen und wollen sich am Dienstag für Wladimir Putin nur zweieinhalb Stunden Zeit nehmen. Keiner der 31 bisherigen Gipfel fiel so kurz aus. Und keiner dürfte mit einer so mageren Bilanz enden.
Zwar lobte der außenpolitische Berater des Kremlchefs, Juri Uschakow, die EU als „strategischen und sehr wichtigen Partner“ für Russland. Die reinen Wirtschaftsdaten lesen sich in der Tat wie eine Erfolgsstory. Russland ist nach den USA und China wichtigster Handelspartner der EU, umgekehrt ist diese für Russland sogar der größte. Das hat vor allem mit Energielieferungen zu tun. Energie und eine „Modernisierungspartnerschaft“ stehen daher auch beim Gipfel ganz oben auf der Agenda. Im außenpolitischen Teil geht es neben Syrien und dem Iran aber vor allem um die Entwicklungen in der Ukraine.
Moskau fürchtet Chaos
Dass deren Präsident Viktor Janukowitsch in letzter Minute die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU platzen ließ, lastet Brüssel vor allem Putin an, der Kiew mit Geldgeschenken den Beitritt zu russischen Projekten für die Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken schmackhaft zu machen versuchte. Und Moskau macht für die Unruhen, die danach begannen, Europa verantwortlich.
Das Thema schaffte es Freitag sogar auf die Tagesordnung des russischen Nationalen Sicherheitsrates. Zwar braucht der Kreml angesichts der schwachen Opposition nicht zu fürchten, dass die Unruhen auf Russland übergreifen. Sie könnten jedoch zum Bürgerkrieg eskalieren und alle staatlichen Strukturen in der Ukraine hinwegfegen, warnen Experten in Moskau. Chaos und Instabilität sind genau das, was Russland an seiner ohnehin sensiblen Südwestflanke aber überhaupt nicht gebrauchen kann.
Statt Kiew mit Sanktionen zu drohen, erregte sich Russlands Ständiger Vertreter bei der EU, Wladimir Tschischow, sollte Europa der dortigen Regierung besser helfen, Europarat und Russland könnten in Kiew vermitteln.
21. November 2013: Die Regierung in Kiew legt überraschend ein Assoziierungsabkommen mit der EU aus "Gründen der nationalen Sicherheit" auf Eis. Tausende Menschen demonstrieren gegen diese Entscheidung.
1. Dezember: Hunderttausende fordern den Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch. Bei Zusammenstößen werden im Regierungsviertel mindestens 150 Menschen verletzt. Die Opposition um Vitali Klitschko fordert den Rücktritt der Regierung.
3. Dezember: Die Opposition scheitert mit einem Misstrauensantrag gegen Ministerpräsident Mykola Asarow. Im Regierungsviertel blockieren Demonstranten den Zugang zu Ministerien und zum Parlament.
8. Dezember: Bei einem der größten Massenproteste seit Jahren fordern nach Oppositionsangaben eine halbe Million Menschen Neuwahlen.
9. Dezember: Die Behörden leiten Ermittlungen gegen die Opposition wegen eines angeblichen Umsturzversuchs ein. Sicherheitskräfte räumen erste Barrikaden.
10. Dezember: Hunderte Kräfte der Sondereinheit "Berkut" (Steinadler) vertreiben Demonstranten aus dem Regierungsviertel. Der Protest auf dem zentralen Maidan-Platz geht weiter.
13. Dezember: Nach wochenlangen Protesten treffen sich erstmals Janukowitsch und Klitschko. Es gibt keine Annäherung.
17. Dezember: Russlands Präsident Wladimir Putin sichert Janukowitsch einen Kredit über 15 Milliarden US-Dollar (rund 11 Mrd Euro) zu.
22. Dezember: Zehntausende Menschen protestieren in Kiew zum fünften Mal hintereinander bei einer Sonntagskundgebung gegen die Führung.
16. Jänner 2014: Das Demonstrationsrecht wird verschärft. Die Haftdauer für Blockaden von Regierungsgebäuden wird erhöht, "extremistische Aufrufe" werden unter Strafe gestellt. Ein Gericht verbietet zudem Demonstrationen in Kiews Innenstadt bis zum 8. März.
19. Jänner: Hunderte mit Knüppeln ausgerüstete Oppositionelle versuchen, das Parlamentsgebäude zu stürmen. Mindestens 200 Menschen werden verletzt. Klitschko warnt vor einem Bürgerkrieg.
21. Jänner: Nach blutigen Straßenschlachten geben sich Opposition und Staatsführung gegenseitig die Schuld an der Zuspitzung der Lage.
22. Jänner: Bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften werden Hunderte Menschen verletzt und mindestens drei Demonstranten getötet, zwei von ihnen durch Schüsse. Nach der Eskalation der Proteste fordert die Opposition den Rücktritt von Janukowitsch binnen 24 Stunden.
23. Jänner: Ein Treffen von Janukowitsch mit Oppositionellen bringt keinen Durchbruch. Die zersplitterte Opposition aus prowestlichen Kräften um Klitschko und gewaltbereiten Ultranationalisten will sich der Polizeigewalt nicht beugen.
24. Jänner: Janukowitsch signalisiert Entgegenkommen. Er kündigt eine Kabinettsumbildung und eine Änderung der umstrittenen Verschärfung des Demonstrationsrechts an. Klitschko weist die Zugeständnisse als unzureichend zurück: "Janukowitsch muss gehen". Im Westen des Landes besetzen Demonstranten Verwaltungsgebäude.
25. Jänner: Die Opposition lehnt eine von Janukowitsch angebotene Regierungsbeteiligung ab. Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk sollte neuer Regierungschef und Klitschko dessen Stellvertreter werden. Das Angebot sah auch Straffreiheit für festgenommene Demonstranten vor. Im Gegenzug sollten alle blockierten Plätze und Gebäude in Kiew geräumt werden.
26. Jänner: Die Proteste werden in den Regionen ausgeweitet. In mehreren Städten in der Zentralukraine sowie in den Industriezentren Dnjepropetrowsk und Saporoschje versuchten Demonstranten, Verwaltungsgebäude zu stürmen. In Kiew ehren Tausende einen erschossenen Demonstranten mit einem Trauermarsch.
Morgenapell im fünften Stock des besetzten Gewerkschaftshauses in Kiew. Der Ton ist scharf: „Stillgestanden“, „rührt euch“ und „wegtreten“. Kommandant Jarosch korrigiert die Haltung seiner Leute, begradigt die Reihe. Soldaten nennt er sie. Das Quartier bezeichnet er als Kaserne. Er ist ein durchtrainierter, groß gewachsener Mann Mitte 30 aus der Ostukraine, trägt einen deutschen Kampfanzug, Schutzweste und ein Barrett der ukrainischen Armee. Bis zwei Uhr gibt er seinen Leuten schließlich frei – nach einer langen und ereignisreichen Nacht auf den Barrikaden und wenigen Stunden Schlaf.
Auf die Frage, ob er sich als Soldat sehe oder als Aktivist, sagt Jarosch: Eine „Hundertschaft“ kommandiere er, die „Bärenhundertschaft“, eine Einheit der „Nationalen Selbstverteidigungstruppen“. Und mit seinem Wissen als hochrangiger Reservist der Armee trage er schlicht dazu bei, diese Bewegung zu koordinieren um seinen Töchtern einen freien, demokratischen Staat zu hinterlassen. Und er ist sich des Sieges sicher. Lange erwartete neue Helme haben sie heute bekommen von den Freunden aus Iwano Frankiwsk in der Westukraine. „Es ist ein guter Tag“, sagt Jarosch: „Bessere Helme, ein Sieg und die Aussicht auf weitere Erfolge.“
Ein Sieg ohne Blut
In etwa um Mitternacht in der Nacht auf Sonntag waren die Nachrichten aus dem Walkie-Talkie Jaroschs zu einem pausenlosen rauschenden Stimmengewirr geworden: Auseinandersetzungen auf dem Europaplatz. Im Ukrainischen Haus haben sich Polizeieinheiten verschanzt. Dann werden sie von einer Menschenmenge umringt und angegriffen. Das Ukrainische Haus ist ein Ausstellungs- und Veranstaltungsort auf dem Platz zwischen der umfehdeten Gruschewskogo-Straße und dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. Mythenumwoben. Von hier soll ein weit verzweigtes unterirdisches Gangsystem aus Sowjetzeiten direkt ins Regierungsviertel führen.
Jarosch koordiniert seine Leute und schickt die Reserve auf den Europaplatz. Später in der Nacht, nach Verhandlungen, räumt die Polizei das Gebäude – praktisch widerstandslos. „Sie sind gegangen, sie wussten, dass sie sonst zerfetzt werden“, sagt Jarosch. „Ein idealer Sieg weil kein Blut geflossen ist.“ Und: Rund ein Dutzend Polizisten sei vor dem Abzug in die Hand seiner Leute gefallen. „Wir verhandeln jetzt über einen Gefangenenaustausch“, so der Kommandant der deswegen auch keine bevorstehenden Eskalationen erwartet. Regierungsvertreter allerdings dementierten „Festnahmen“ von Polizisten und Verhandlungen.
Das klingt nach Krieg. „Es ist ein Krieg – wenn auch ein kleiner“, sagt einer von Jaroschs Leuten. Er freut sich über den neuen Helm und legt seinen alten Sowjet-Stahlhelm beiseite. Jarosch sagt: „Es war von dem Moment an ein Krieg, als es die ersten Toten gab.“
Am Sonntag vor genau einer Woche war die Lage in Kiew eskaliert, als einige radikale Gruppen versuchten, vor das Parlament zu ziehen und in der Gruschewskogo die Polizei angriffen. Die Einheit von Jarosch war an der Eskalation nicht beteiligt, aber gleich danach involviert, um die Truppen des Innenministeriums auf Distanz zum Maidan zu halten.
Mittlerweile stehen auf der Gruschewskogo mehrere Reihen meterhoher Barrikaden. Tagsüber ist es zumeist ruhig, abends gibt es kleinere Gefechte mit Wasser, Molotowcocktails und Steinen. Und vor allem Drohgebärden.
Knüppel, Eisenschilde, Molotowcocktails und Steinschleudern sind die Waffen in diesem Kampf. Aber einer der Männer auf den Barrikaden in der Gruschewskogo sagt: „Wenn das nicht reicht, werden wir auch schießen – immerhin schießen sie bereits auf uns.“ Und immer wieder kommen Menschen auch mit Mistgabeln oder Sensen.
Zumindest hat die Armee gestern verkündet, sich in der politischen Krise nicht einmischen zu wollen. Laut Verfassung ist das auch verboten.
Ministerium gestürmt
„Es ist ein Volksaufstand“, sagt Jarosch. Das verkompliziere die Sache, weil die Demonstranten an keine Struktur gebunden seien. Einige sagen offen, dass sie bereits Waffen tragen – zur Selbstverteidigung, wie immer betont wird. Das macht es für Leute wie Jarosch zu einer schwer zu koordinierenden Angelegenheit.
Am Sonntag versammelten sich erneut Zehntausende Menschen im Zentrum Kiews. Kurz nach Mitternacht verkündet die Opposition die Erstürmung des Justizministeriums (siehe Bericht unten).
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