Angst vor Krieg mit Russland
Für viele Ukrainer ist es nur mehr eine Frage wann: Als Olena am Dienstag mit Bekannten aus ihrem Dorf Stjahailiwka im Nordosten der Ukraine nahe der Grenze zu Russland auf die Felder vor dem Dorf ging, um Futter für die Kühe und Schweine zu sammeln, kam sie nicht weit, wie sie erzählt. 50 Panzer seien dort gestanden – und sie habe umgedreht. Sie ist sicher, dass es russische waren.
Übergangspräsident Alexander Turtschinow malte indes ein düsteres Bild von der ukrainischen Armee. Die Streitkräfte seien "auf Null" heruntergewirtschaftet. Über 6000 gefechtsbereite Soldaten verfüge die Infantrie – während Russland an der Grenze 200.000 Soldaten sammle. Eine Nationalgarde aus Veteranen soll jetzt gebildet werden.
Unabhängigkeit beschlossen
Das Parlament auf der Krim indes beschloss formell die Unabhängigkeit. Die dort stationierte ukrainische Schwarzmeerflotte werde man "verstaatlichen", so der moskautreue Premier Sergej Aksjonow.
Für die Interimsführung in Kiew wird aber zunehmend der Osten der Ukraine zum tatsächlichen Problem. Am Dienstag wurde der Ex-Gouverneur der ostukrainischen Region Charkiw, Michail Dobkin, verhaftet – wegen Separatismus. Dobkin hatte zur Bildung einer "Volksfront" zur "Säuberung" der Ukraine aufgerufen und die Verlegung der Hauptstadt von Kiew nach Charkiw (Hauptstadt von 1919 bis 1934) verlangt.
Seit Wochen kommt es im Osten der Ukraine zu pro-russischen Kundgebungen. Augenzeugenberichten zufolge sollen massenweise Demonstranten aus Russland in die Region gebracht worden sein. Der einflussreiche Oligarch Rinat Achmetow äußerte sich kritisch über die Festnahme Dobkins und warnte vor einer Eskalation.
Die Krim-Pläne von Russlands Präsident Putin scheinen aufzugehen. Was er mit Teilen der Ostukraine vorhat, lässt sich noch nicht absehen.
Was macht der Westen?
Die USA und EU setzen nun nicht mehr allein auf Worte, sondern verstärkt auf militärische Aktionen: Manöver der bulgarischen, rumänischen und US-Marine im Schwarzen Meer; Manöver der polnischen und US-Luftwaffe in Polen; AWACS-Überwachungsflugzeuge der NATO entlang der Grenze Rumäniens und Polens im Einsatz und US-Kampfflugzeuge im Baltikum.
Welche Sanktionen gegen Russland gibt es?
Die USA haben in der Vorwoche Kontensperren und Einreiseverbote für eine Reihe von Russen verhängt – ohne diese namentlich zu nennen. Diesen Schritt wird die EU laut dem französischen Außenminister Fabius in dieser Woche setzen – als zweiten Schritt nach dem Einfrieren von Verhandlungen über Visa-Erleichterungen.
Wie wirkungsvoll ist das?
Wenn man der russischen Elite, die sich nicht immer mit sauberen Mitteln bereichert hat, den Geldhahn zudreht und die Reisefreiheit nimmt, "dann haben sie das Land innerhalb von zwei Wochen am Boden". Das glaubt zumindest Ex-Hedgefonds-Chef Bill Browder, deklarierter Kreml-Feind, seit sein Anwalt unter ungeklärten Umständen in U-Haft in Moskau gestorben ist. Peter Hawlik vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche wertet diese Sanktionen ebenfalls für schmerzvoll für Russland. "Aber dann wird Putin den Spieß umdrehen und das Gleiche machen." Putin könnte auch Eigentum europäischer Investoren konfiszieren. Dass im Gegenzug Auslandsinvestoren ausblieben, würde ihn kurzfristig kaum stören, glaubt Hawlik. Mittel- und langfristig aber schon.
Womit wäre Russland ins Mark zu treffen?
Die EU sieht als dritte Sanktionsstufe weitreichende Wirtschaftsmaßnahmen vor, die bisher öffentlich nicht näher ausgeführt wurden. Putin kann es sich nicht leisten, auf die Einnahmen aus den Gas- und Ölgeschäften mit Europa zu verzichten. Wenn die EU diese beschränkt oder gar darauf verzichtet, träfe das Russland ins Mark. Die Europäer könnten Gas aus Norwegen oder Katar importieren. "Libyen fällt wegen der politischen Unsicherheit aus. Iran und Irak sind politisch heikel", gibt Hawlik zu bedenken. Gas- oder Kohlelieferungen aus den USA, wie sie Präsident Obama Europa als Alternative zu Russland angeboten hat, seien erst in drei bis fünf Jahren realistisch und kostspielig.
Hochnervöse Spannung und banges Warten auf das, was auf der Krim passiert – diese Stimmung ist vor dem dortigen Referendum über einen Anschluss an Russland in Kiew überall spürbar. Und Empörung darüber, welches Bild die russische Propaganda über die Ukraine zeichnet: "Haben Sie die Bilder im russischen Fernsehen gesehen?", fragt ein Passant nahe dem Maidan aufgebracht.
"Sind Ihnen irgendwo brutale Nationalisten, Rechtsradikale, Faschisten untergekommen?", fragt auch der ukrainische Erzbischof Svatoslav Schevtschuk, der auf der Bühne des immer noch dicht bevölkerten Maidan eine Messe gelesen hat. "Die Russen behaupten, hier herrschen Gewalt und Unterdrückung, aber es ist doch alles friedlich!" Er vergleicht die Krim-Krise mit der seinerzeitigen Kuba-Krise: Wenn nicht alle Möglichkeiten eines Dialogs mit Russland ausgeschöpft würden, drohe ein Dritter Weltkrieg. In der Ukraine habe niemand Interesse an Gewalt, "all die angeblichen ethnischen Konflikte sind von außen projiziert".
"Fremde müssen raus"
So sieht das auch Valentyn Nalivaitschenko, der neue Leiter des Geheimdienstes SBU. "Auf der Krim sind russische Truppen und Sicherheitsdienste involviert, in der Ostukraine Russland-treue Bewegungen, die von außen bezahlt werden", sagt er nach einem Gespräch mit Außenminister Sebastian Kurz. Der hielt sich als Vorsitzender des Europarates mit Europaratspräsident Thorbjörn Jagland am Montag in Kiew auf. "Das Referendum ist illegal, solange die Fremden da sind – die müssen raus, und dann sollen die Bürger der Krim entscheiden, worüber sie entscheiden wollen", sagt der Geheimdienstchef. Umfragen sagen, dass – ohne Druck – selbst unter der russischsprachigen Bevölkerung der Krim ein Votum gegen den Anschluss an Russland ausginge.
"Bei den Älteren gibt es den Hang zu Russland, aber die Jungen dort sind nach Westen und Europa orientiert", erzählt Roman Tsupryk, Gründer der Ukrainian Week, über die Krim. Russland tue alles, um dieses Bild zu drehen. Jetzt fürchtet Tsupryk um seine Kollegin Olga Maximenko. Sie wurde Sonntagabend auf dem Weg in die Krim an einem Checkpoint mit fünf weiteren Journalisten von bewaffneten Einheiten gekidnappt. Sie tauchten bisher nicht wieder auf.
Keine Wählerlisten
Kurz und Jagland berieten mit Übergangspräsident Turtschinow und Premier Jazenuk über Aktionen des Europarats. Ergebnis: Der Europarat untersucht im Rahmen seiner "Venediger Kommission" möglichst noch bis Sonntag, ob das Referendum auf der Ukraine legitim ist; Experten sollen so bald wie möglich auf die Krim reisen; ukrainische Untersuchungen der Gewalt auf dem Maidan werden vom Europarat "begleitet". Mittelfristig soll der Europarat in einer Arbeitsgruppe mit dem Parlament bei weiteren Gesetzesbeschlüssen hilfreich sein und eine Verfassungsreform unterstützen. "Die Ukraine hat diese Unterstützung gerne angenommen", sagte Kurz.
Außenminister Sebastian Kurz im KURIER-Interview gibt es hier.
Kommentare