"Wir sind sehr stur"

"Die Relevanz deiner Reaktion wird zum Schlüssel, akzeptiert zu werden", sagt Yves Daccord über humanitäre Hilfe in einem Kriegsland wie Syrien.
ICRC-Generalsekretär Yves Daccord über humanitäre Hilfe in inhumanen Zeiten.

Yves Daccord ist seit 2010 Generalsekretär des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz – und damit einer Organisation, die in den Krisen dieser Welt eine entscheidende Rolle spielt. Aber auch einer Organisation, deren Prinzipien bedrängt werden. Der KURIER traf ihn beim Humanitären Kongress in Wien.

"Wir sind sehr stur"
Daccord
KURIER: Kriege wie in Syrien, Afghanistan oder der Ukraine, Staaten, die eingreifen, Ordnungsmächte, die das nicht tun, Gebiete, zu denen es keinen Zugang gibt – was ist für Sie das größte Problem?

Yves Daccord:Es ist eine Konvergenz verschiedenster Probleme. Souveränität ist heute – aus Mangel an Kooperation zwischen Staaten – zu so etwas wie einem ultimativem internationalen Wert geworden. Und da sprechen wir nicht nur über Syrien. Die Botschaft lautet: Was innerhalb deiner Grenzen passiert, ist dein Problem. Was natürlich sehr problematisch ist, wenn es eine Krise gibt – und vor allem in einer Welt, in der man Probleme nicht durch Grenzen kontrollieren kann. Das andere Element ist, dass wir immer mehr interne Kriege sehen, die globale Auswirkungen haben. Und dabei werden alle möglichen Mittel eingesetzt. Spitäler werden bombardiert, Gesundheitsarbeiter behindert. Es wird Druck aufgebaut, damit die jeweils "anderen" keine Hilfe bekommen. Da geht es nicht darum, Zugang zu verweigern, weil man eine Organisation nicht mag. Der dritte Aspekt liegt bei uns. Viele NGOs überlassen die Arbeit vor Ort lokalen Partnern und gehen selbst kaum mehr direkt vor Ort. Das birgt Gefahren. Es gibt keine andere Möglichkeit, als wirklich lange in einer Region zu bleiben, die Parteien zu kennen, und sie zu engagieren. Konkret: Wir sprechen mit der afghanischen Regierung – aber auch mit den Taliban und allen anderen bewaffneten Gruppen. Nicht, weil wir sie so gern haben, sondern aus Prinzip. Wenn man nur mit einer Seite redet, wird man Teil des Konflikts.

Aber ist es möglich, nicht Teil eines Konflikts zu werden? Beispiel Syrien. Das bedeutet ja auch, Zugeständnisse machen zu müssen, um Zugang zu haben.

Man bleibt nie außerhalb. Man wird immer Teil der Dynamik werden. Aber zwei Dinge sind wichtig: Unser Branding; wir sind radikal neutral und unparteiisch. Das ist schön, wenn man das in Wien sagt, aber das muss man am Boden demonstrieren. Und Menschen beobachten einen sehr genau. Man muss eine relevante Antwort auf Bedürfnisse finden. Die Relevanz deiner Reaktion wird zum Schlüssel, akzeptiert zu werden. Es ist nicht genug, einen Plan in Wien zu entwerfen und ihn in Syrien umzusetzen. Die Bedürfnisse in Aleppo sind andere als in Homs oder Idlib. Aber um das zu wissen, muss man vor Ort sein, die Menschen kennen. Wenn man das nicht tut, ist man verloren, weiß nicht mehr, was rund um einen passiert und ist manipulierbar. Zweiter Punkt: Wir haben immer lokales und internationales Personal zusammen. Lokale Gruppen kennen Bedürfnisse und Dynamiken, aber alleine wird es sehr schwer für sie. Wenn man sie kombiniert, wird daraus eine sehr effiziente und starke Organisation. Und drittens: Man muss einschätzbar sein. Die Menschen müssen wissen, wofür man steht. Wir als ICRC sind eine sehr diskrete Organisation, aber zugleich sehr stur. Das ist – wie ich meine – der Grund, wieso wir etwa in der Ukraine nach wie vor an den kompliziertesten Orten tätig sind. Und wir sind nicht naiv.

Aber noch einmal das Beispiel Syrien. Stichwort Evakuierungen von Gebieten vor allem im Umfeld von Damaskus, die unter Obhut des Roten Kreuzes stattfinden. Die könnte man auch ethnische Säuberungen nennen. Wo ist da der Grat zwischen "es ist wichtig vor Ort zu sein" und dem Risiko, sich zum Komplizen zu machen?

Das Dilemma in diesen Fällen ist extrem. Das ist ganz klar. Wir haben sehr spezielle Prozeduren für solche Fälle, und wenn diese Prozeduren nicht akzeptiert werden, dann machen wir es nicht. Jeder Einzelne muss einer Evakuierung zustimmen. Und das Recht, Nein zu sagen, muss vorhanden sein. Das ist das Minimum. Die beteiligten Parteien wissen das. Und manchmal kommt es vor, dass Kriegsparteien uns nicht dabei haben wollen. Syrien ist sehr komplex. Auch Aleppo war sehr komplex. Wir waren da. Wir haben mit den Parteien vor Ort diskutiert und verhandelt. Eine solche Evakuierung kann man nicht in Damaskus oder Moskau verhandeln. Unsere Stärke ist eben: Wir sind da. Vor allem aber auch: Wir bleiben.

Das Rote Kreuz hat eine lange Geschichte und Kultur in der Pflege humanitärer Werte. Es sieht zuweilen so aus, als würden diese Werte in Westeuropa zunehmend abgestoßen. Sehen Sie das auch so?

Vielleicht mit einem kleinen Unterschied. Seit 2011 wird Europa ein bisschen mehr wie der Rest der Welt. Das liegt sicher an der Wirtschaftskrise. Ich denke, es wurde unterschätzt, was eine solche Krise bedeutet. Menschen suchen nach Lösungen. Und zum Teil extremen Lösungen. Das andere Thema ist: Es war von Anfang an unvorstellbar, dass Europa von der Krise in Nahost unberührt bleibt. Das ist eine in der Geschichte beispiellose Krise. Eine Weltregion steht in Flammen. Werte stehen immer hoch im Kurs, wenn es einem gut geht. Aber man muss auch sagen: Es gibt viele, die die Werte für die wir stehen, infrage stellen – aber es gibt auch immer mehr mehr Menschen, die für diese Werte geradestehen und sie verteidigen. Europa ist in diesem Sinne vielleicht einfach etwas mehr gespalten, als es einmal war.

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