Nachlese: Elefantenrunde der Spitzenkandidaten
Es war ein mediales Großereignis: Erstmals trafen die Kandidaten aller Fraktionen zu einer Wahlkonfrontation zusammen, die durchaus mehr als reinen Ritualcharakter hatte. Die letzten Umfragen hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Europawahl prognostiziert, es galt daher mehr denn je, die Unentschlossenen zu überzeugen.
Nachlese: Elefantenrunde der Spitzenkandidaten
Damit ist die Debatte an ihrem Ende angelangt. Auch in den sozialen Medien fand sie starken Widerhall: 15.000 Menschen haben unter dem Hashtag #TellEurope 63.000 Tweets verfasst.
Eine Zusammenfassung der – online wie offline geführten – Debatte finden Sie in Ihrer KURIER-Morgenausgabe und in Kürze auf kurier.at/eu.
Danke fürs Dranbleiben!
Frage: Was ist Ihr jeweiliges Angebot an die Wähler? Warum soll Europa für sie stimmen?
Keller:
Ich biete ein Europa des sozialen Schutzes, der Klimapolitik und der Arbeitsplatzbeschaffung.
Verhofstadt:
Die drei wichtigsten Punkte für mich sind eine starke Führung in Europa, eine Führung mit Visionen für die Zukuft. Ich will die Wirtschaft wieder aufrichten und: Jobs, Jobs, Jobs!
Juncker:
Ich möchte die künstlichen Teilungen zwischen Norden und Süden abschaffen, zwischen alt und jung, zwischen neuen und alten Mitgliedsstaaten. Ich möchte ein Europa des Kompromisses.
Tsipras:
Wir wollen ein Europa, das seinen Bürgern gehört. Es gilt, die Demokratie zu stärken, keine Entscheidung mehr hinter verschlossenen Türen zu treffen. Die Troika muss von den europäischen Institutionen vertrieben werden, denn sie ist eine Katastrophe.
Schulz:
Wir müssen transparenter werden; die Interessen der Bürger an erste Stelle stellen. Es gilt, ein besseres Leben für alle zu schaffen, insbesondere für die junge Generation.
Thema: Korruption
Keller:
Die Lobbyisten sind ein großer Teil des Problems. Wir haben zuviele Lobbyisten, für die Millionen ausgegeben werden, während die Stimmen der Bürger nicht gehört werden. Warum haben Sie Transparency International davon abgehalten, das Europäische Parlament zu untersuchen, Herr Schulz?
Verhofstadt:
Man kann Lobbyismus nicht verbieten, aber es braucht neue Regeln, damit aus diesem Lobbyismus keine Korruption erwächst. Das Problem ist hier ein Mangel an Führungsstärke der einzelnen Staaten, insbesondere in Paris und Berlin.
Juncker:
Es ist offensichtlich, dass wir die Aktivitäten der Lobbyisten besser kontrollieren müssen. Man kann den Interessensgruppen nicht verbieten ihre Interessen zu vertreten, aber jeder Abgeordnete sollte öffentlich machen, mit wem er Gespräche führt. Nur ein hohes Maß an Transparenz hilft gegen Korruption.
Tsipras:
Das Problem der Korruption ist ein strukturelles. Es ist nicht nur Problem der einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern Bedarf ein Handeln der Union, etwa auch in Hinblick auf Steuerhinterziehung, Offshore-Konstruktion etc.
Schulz:
Wenn von zwei angeklagten Lobbyisten unterschiedlicher Mitgliedstaaten, einer bereits verurteilt ist, dem anderen aber noch nicht einmal der Prozess gemacht wurde, dann wird klar, wie sehr wir ein gemeinsames Verständnis brauchen. Es hängt eben auch vom Willen der Mitgliedsstaaten ab, mit uns zusammen zu arbeiten. Positiv ist indes die hohe Transparenz beim Lobby-Register.
Thema: Flüchtlingspolitik
Verhofstadt spricht sich für eine einheitliche Flüchtlingspolitik aus. Europa hätte viel zu wenig Flüchtlinge aufgenommen, das sei ein Skandal. Tsipras findet es absurd über Flüchtlingspolitik zu reden, solange europäische Staaten sich an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen. Keller betont, dass es inakzeptabel sei, dass Menschen im Mittelmeer sterben. Frontex, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU, handle komplett inakzeptabel. Keller: "Wir brauchen mehr legale Möglichkeiten für Zuwanderer, aber kein Mitgliedsstaat hat den Mumm dazu! Sieht denn niemand, wie arm die Flüchtlinge dran sind? Als Friedensnobelpreisträger müssen wir uns dieses Problems annehmen!"
Auch Schulz betont die Notwendigkeit eines Systems der legalen Zuwanderung. Dieses müsse europaweit geregelt, nicht in den Händen der einzelnen Mitgliedstaaten gelassen werden. Für Juncker ist es hingegen entscheidend, die Menschen "dort zu unterstützen, wo sie leben". Daher dürfe die Entwicklungshilfe nicht weiter gekürzt werden.
Thema: Separatismus
Verhofstadt:
Die Europäische Union sollte sich in solche Fragen nicht einmischen. Das müssen die Spanier und die Katalanen entscheiden.
Tsipras:
Die europäische Linke respektiert das Recht der Selbstbestimmung der Völker, dennoch glauben wir, dass diese seperatistischen Tendenzen NIE zu etwas Positivem geführt haben. Wir sind gegen jede Verschiebung der Nationalgrenzen, können uns aber vorstellen, dass es mehr Autonomie im Rahmen einer föderalistischen Lösung geben.
Keller:
Das Recht der Menschen, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen, ist unantastbar. Als Präsidentin würde ich auch ein unabhängiges Katalonien und Schottland in die EU aufnehmen.
Juncker:
Wir dürfen uns keinesfalls einmischen. Das müssen die Staaten für sich alleine regeln.
Schulz:
Das schottische Referendum ist rechtlich korrekt. In anderen Staaten haben wir jedoch noch keine Blaupause, keine Idee, wie so ein Abspaltungsprozess aussehen sollte.
Thema: Desillusionierung. Warum haben die Menschen Vertrauen in Europa verloren?
Keller:
Ein Mangel an Vertrauen in die Institutionen liegt daran, dass die Institutionen nicht geliefert haben, was sie versprochen haben. Daran müssen wir arbeiten. Die EU führt Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, etwa über das Freihandelsabkommen mit den USA. Durch so etwas verliert man das Vertrauen der Wähler. Meine Botschaft an die Desillusionierten ist: Nehmen Sie Europas Zukunft selber in die Hand.
Tsipras:
Wir müssen Europa retten, indem wir es ändern. Nur Armut und soziale Ausbeutung – das ist für mich die Politik des jetzigen Europas. Das kann nicht die Zukunft sein.
Schulz:
Bürger und Bürgerinnen warten darauf, dass Europa ihre Interessen an erste Stelle setzt. 96% der Bürger Europas leben von 1200.- Euro im Monat – und wir reden hier von Milliarden! Dadurch gewinnt man kein Wählervertrauen.
Juncker:
Wir müssen ernsthaft arbeiten. Der wichtigste Schritt ist ein Freihandelsabkommen mit den USA, damit diejenigen, die arbeiten auch wirklich von ihrem Lohn leben können. Ich bin außerdem für einen Mindestlohn in Europa.
Verhofstadt:
Wir dürfen nicht zulassen, dass die EU zerfällt. Dazu bmüssen wir vor allem den südlichen Ländern klar machen, dass die Rückkehr zur nationalen Währung wäre eine wirtschaftliche Katastrophe wäre.
Nächstes Thema: Banken
Keller:
Wir müssen die Banken deutlicher und besser regulieren. Es braucht auch eine stärkere (Finanz-)Marktregulierung, man müsse die Investitionsbanken von den Privatbanken trennen, damit nicht ein Opa zum Handkuss kommt, wenn Banker sich verspekulieren.
[Hier ist es also, das berühmte Argument vom "Oma-Sparbuch", nur dass es diesmal Opa gehört. Grüne Gendergerechtigkeit. - Anm.]
Tsipras:
Es muss eine Gesamtlösung für eine Umverschuldung geben, damit die Banken saniert werden können - und zwar über den Weg der Schuldenerleichterung.
Schulz:
Ja, die Bankenunion ist ein erster Schritt. Wir haben das Desaster in Irland und Spanien beobachtet, daher ist es wichtig, Risiko und Verantwortung miteinander zu verknüpfen. Die Banken müssen selber für das Desaster haften, das sie in Europa verursacht haben.
Juncker:
Wir haben Banken gerettet, aber nicht für die Bankiers. Wichtig war uns, dass dadurch Unternehmen gerettet werden, die Kredite hatten. Ich lasse es nicht auf mir sitzen, dass wir nur eine Sparpolitik betrieben haben. Wir haben auch investiert, wir haben nicht den gleichen Fehler gemacht wie in den 30er Jahren.
Verhofstadt:
Risikobanken sollten mehr in den Fond einzahlen.
Thema: Wirtschaft
Keller:
Kernthemen sind Jugendarbeitslosigkeit und eine "ökologische Ökonomie". Die jungen Menschen seien nicht schuld an der Krise und sollten mehr Mitsprache haben, wenn es um ihre Zukunft geht. Es gelte in erneuerbare Energien zu investieren, denn so werden Arbeitsplätze mit Nachhaltigkeit geschaffen, die auch in einigen Jahren noch existieren werden. Man müsse die Spekulation beenden, nicht die Steuerzahler dafür heranziehen, die Banken zu retten.
Tsipras:
Es braucht einen europäischen "New Deal", er hält die Jugendarbeitslosigkeit für ein großes Unrecht, die Maßnahmen der EU zur Schuldenbekämpfung für unfair. Er spricht von einer "Fiskalblase", es brauche zukunftsgerichtete Maßnahmen für das Schuldenproblem, etwa wie die Lösung, die Deutschland 1943 angeboten wurde.
Schulz:
Die Banken bekommen Geld von der EZB, investieren aber nicht in die Realwirtschaft. Wenn die gewährten Zinsvorteile jedoch an Projekte und Investitionen gebunden wären, wäre das ein sinnvolles Rezept gegen Arbeitslosigkeit.
Juncker:
Es gelte die Mobilität im Arbeitswesen zu vereinfachen, Menschen sollen z.B. leichter im Ausland studieren können. Natürlich bräuchte es Investition, aber solange es keine Haushaltsmittel gibt, sei das nicht möglich. Man müsse die öffentlichen Finanzen in Ordnung bringen, bevor man neu investieren kann.
Verhofstadt:
Wir brauchen einen neuen Ansatz, nicht immer nur mehr Schulden aufnehmen, zurück zum ursprünglichen Konzept des Binnenmarktes: Kapitalmärkte, Banken, Energiemärkte, Digitales – diese Schlüsselmärkte brauchen eine neue Integration. Auch die Bankenunion sei ein fantastischer Schritt gewesen, da es nun nicht mehr die Steuerzahler sind, die für die Bankenrettung aufkommen müssen, sondern die Banken selbst.
Erste Runde
Guy Verhofstadt, Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE), ergreift als erster das Wort und plädiert in seinem Eröffnungsstatement für eine Europäische Einigkeit, betont wie wichtig die Wahl diesmal ist.
Alexis Tsipras spricht die Situation Griechenlands an: Griechenland sei das Versuchstier der Europäischen Union. Es sei nicht die Erfolgsgeschichte, von der immer wieder die Rede ist, sondern vielmehr eine griechische Tragödie.
Auch Juncker spricht in seinem einleitenden Statement die Finanzsituation an, er spricht sich für das Freihandelsabkommen aus, weist aber darauf hin, dass es da Standards und Normen geben muss.
Schulz will Steuerzahler entlasten, Steuerzahler sollen nicht für die Schulden aufkommen müssen, die andere verursacht haben. Er wünscht sich eine EU, die gegen Steuerhinterziehung und Betrug kämpft, für Chancen für junge Menschen.
Keller betont die Bedeutung der Wahlbeteiligung: Die Bürger sollen zur Urne gehen und ihre Zukunft mitentscheiden vom 22. bis zum 25. Mai, sich einsetzen für ein besseres neues Europa, das sich mehr für Menschen als für Banken einsetzt.
Die TV-Debatte ist eine Sendung der Eurovision. "Ähnlich wie der Song Contest" meint Moderator Raimund Löw. Das Prinzip sei auch in etwa das gleiche. Die Debatte wird überwiegend auf Englisch geführt, darauf haben sich Schulz, Verhofstadt und Keller geeinigt. Jean-Claude Juncker wird Französisch sprechen, Alexis Tsipras beteiligt sich auf Griechisch am Wettstreit der Argumente.
Polit-Analyst Stefan Lehne (von der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe) erwartet sich von der Debatte diesmal mehr außenpolitische Themen als zuletzt. In den letzten Jahren sei vor allem die Finanzkrise im Mittelpunkt gestanden, durch die Ukraine sei die Außenpolitik der Union nun aber wieder stärker in den Fokus gerückt.
Moderiert wird die Diskussion von der italienischen RAI-Journalistin Monica Maggioni. Der Hashtag ist #tellEurope.
Chancen auf den Top-Job an der Spitze der Brüsseler Behörde hat Tsipras ebenso wenig wie Verhofstadt und Keller. "De facto wird es entweder Schulz oder Juncker", sagt Hannes Swoboda, Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament. (Mehr dazu hier.)
In weniger als 20 Minuten geht es los. Zur Einstimmung können Sie hier noch rasch Ihr Wissen über die Europawahlen testen. Von der Anzahl der EU-Mitgliedsstaaten bis zur aktuellen EU-Ratspräsidentschaft, von der Euro-Zone bis zur Zimtschnecken-Verordnung hat sich Kollegin Marie North knifflige Fragen zum Thema einfallen lassen. Sind Sie Europa-fit?
Gruppenbild mit Dame
Juncker und Schulz kennt man - doch wer sind die anderen Spitzenkandidaten bei der EU-Wahl? Ein Überblick.
Der TV-Fahrplan zum Wahlkampf
Zu einer ersten "Elefantenrunde" trafen sich vier der fünf Anwärter auf das Amt des EU-Präsidenten bereits Ende April. Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude Juncker (Europäische Volkspartei), Parlamentspräsident Martin Schulz (Sozialdemokraten), Belgiens Ex-Regierungschef Guy Verhofstadt (Liberale), sowie die Grüne EU-Abgeordnete Ska Keller diskutierten in Maastricht (hier nachzulesen). Der Linke-Spitzenkandidat Alexis Tsipras fehlte damals – er wollte nicht auf Englisch diskutieren, hieß es beim veranstaltenden Sender Euronews.
Juncker und Schulz, die aussichtreichsten Kandidaten, haben sich u.a. schon im französischen Fernsehen duelliert. Am 8. Mai diskutierten sie für ORF und ZDF (hier nachzulesen), am 20. Mai gibt es eine Debatte mit den beiden in der ARD.
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