Tunesische Verfassung mit großer Mehrheit angenommen
Die umstrittene neue Verfassung Tunesiens ist in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit angenommen worden. Wie die Wahlkommission in der Nacht auf Mittwoch in Tunis mitteilte, entfielen 94,6 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Ja. Die Beteiligung an der Volksabstimmung am Montag erreichte jedoch nur 28 Prozent. Die Opposition hatte das von Präsident Kais Saied zum Ausbau seiner Macht initiierte Votum boykottiert.
Trotz der niedrigen Beteiligung kann die Verfassung in Kraft treten. Sie sieht keine Instanz mehr vor, die den Präsidenten kontrollieren oder ihn gar des Amtes entheben könnte. Kais kann künftig etwa die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen, ohne dass das Parlament dem zustimmen müsste. Zudem soll er die Volksvertretung auflösen können. Saied hat zudem bereits angekündigt, auch das Wahlrecht ändern zu wollen.
Saied sagte bereits vor der Bekanntgabe des Ergebnisses, er wolle mit der neuen Verfassung "alle Forderungen des tunesischen Volks" umsetzen. Die Verfassungsänderung hatte er mit dem Kampf gegen Korruption begründet. Viele weitreichende Entscheidungen hatte er per Dekret und unter Umgehung der bisherigen Verfassung durchgesetzt. Diese war im Jahr 2014 eingeführt worden und hatte die Macht des Präsidenten zugunsten des Parlaments und Regierungschefs beschnitten.
Wandel zur Demokratie
Tunesien war nach den arabischen Aufständen ab 2010 als einzigem Land der Wandel zur Demokratie gelungen. Kritiker werfen Saied vor, das nordafrikanische Land nun wieder in eine Diktatur zurückführen zu wollen. Das Verfassungsreferendum wurde auch als Abstimmung über Saieds bisherige Führung angesehen. Die geringe Beteiligung könnte Saieds Kritikern Aufwind geben und dessen Legitimität schwächen. Viele Tunesier kämpfen mit Arbeitslosigkeit und Armut. Auf diese Probleme geht die neue Verfassung kaum ein.
Kritisch wird der Kurs Saieds auch in den USA gesehen. Der Schutz der Menschenrechte und grundlegender Freiheiten sei durch die neue Verfassung gefährdet, sagte etwa der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Die gegenseitige Kontrolle politischer Institutionen sei durch die neue Verfassung geschwächt. Die Denkfabrik Atlantic Council schrieb, Tunesien erlebe "einen der schwierigsten Momente seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956".
Saied hatte seine Macht vor einem Jahr gefestigt. Damals setzte er den damaligen Regierungschef ab und zwang das Parlament, seine Arbeit auszusetzen. Später löste er es ganz auf. Der Präsident entließ zudem aufgrund mutmaßlicher Korruption Dutzende Richter.
Zuvor hatte sich Saied einen monatelangen Machtkampf mit der islamisch-konservativen Partei Ennahda geliefert, die er durch den Schritt erheblich schwächte. Die als vergleichsweise moderat geltenden Islamisten waren stärkste Kraft im Parlament gewesen und verurteilten die umstrittenen Maßnahmen Saieds als "Staatsstreich". In der Bevölkerung haben sie indes deutlich an Zuspruch verloren. Die Partei gilt weithin als korrupt, die Bilanz ihrer Parlamentsarbeit als enttäuschend.
20.000 Menschen haben Tunesien verlassen
unesien ist gespalten zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten. Seit Monaten kommt es auf beiden Seiten immer wieder zu Protesten. Viele Tunesier sind heute ärmer als noch zu Zeiten des Langzeitherrschers Zine El Abidine Ben Ali, den Massenproteste 2011 aus dem Amt drängten. Groß ist der Zweifel, dass die Demokratie als Staatsform geeignet sei, um die wirtschaftliche Krise zu bewältigen. Da die Abgeordneten in der Vergangenheit eher mit Streitereien als mit dringend notwendigen Reformen beschäftigt waren, hoffen viele auf einen starken Präsidenten, der die Probleme angehen wird. Jedoch hat auch Saieds Politik wenig zur Verbesserung der Lage beigetragen.
Seit Beginn von Saieds politischem Umbau haben schätzungsweise rund 20.000 Menschen das Land in Richtung Europa verlassen, die meisten von ihnen per Boot über das Mittelmeer. Tunesier stellen nach Angaben des Tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte inzwischen die größte Gruppe aller in Italien ankommenden Migranten.
In der neuen Verfassung heißt es, Tunesien sei ein Teil der "islamischen Gemeinschaft" und der Staat bemühe sich im Rahmen des demokratischen Systems um die Umsetzung der Ziele, zu denen etwa der Schutz des Lebens zähle. Einige Beobachter werten dies als strategische Maßnahme des als säkular geltenden Staatschefs Saied, um auch die Anhänger der Ennahda-Partei anzusprechen. Was genau der vage gehaltene Absatz in der Praxis meint, ist indes nicht klar.
Eine Abkehr vom Wandel zur Demokratie in Tunesien würde hart erarbeitete Fortschritte zunichte machen - gerade im Vergleich zu anderen Ländern der Region, in denen der sogenannte Arabische Frühling wenig nachhaltige Wirkung zeigte. So wurde im Nachbarland Libyen 2011 der Machthaber Muammar al-Gaddafi bei einem Militäreinsatz festgenommen und getötet. Das Land stürzte danach in einen Bürgerkrieg, nach einer zweijährigen Waffenruhe flammt nun wieder neue Gewalt auf.
In Ägypten blieb der demokratische Umbruch nach dem Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak nur ein Experiment. Auf den Sieg Mohammed Mursis von den Muslimbrüdern folgte im Sommer 2013 ein Militärputsch. Mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi trat ein Armeechef an die Spitze, über den Kritiker sagen, er unterdrücke sein Volk mit noch schlimmeren Methoden als zu Mubaraks Zeiten.
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