Selbst die Regierung ist tief gespalten

Ennahda-Anhänger in Tunis. Die Islamistenpartei ist ebenso gespalten wie die Gesellschaft.
Tunesien steht vor dem poltischen Chaos, Ministerpräsident Jebali droht mit Rücktritt.

Nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid und Massenprotesten in Tunesien tritt die politische Spaltung im Land immer offener zutage. Auch in der regierenden islamistischen Ennahda-Partei ist ein massiver Richtungsstreit entbrannt. Der als moderat geltende Ministerpräsident Hamadi Jebali droht mit Rücktritt, falls Ennahda der Bildung einer Regierung aus parteiunabhängigen Experten im Wege steht. Der konservative Flügel um Parteichef Rachid Ghannouchi lehnt eine solche Regierung ab.

Die sozialliberale Partei „Kongress für die Republik“ (CPR) hat indessen die von Ennahda geführte Regierung verlassen. Die Bedingungen der von Präsident Moncef Marzouki gegründeten CPR-Partei seien nicht erfüllt worden, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag. „Seit einer Woche sagen wird, dass wir uns von der Regierung zurückziehen werden, wenn der Außen- sowie Justizminister nicht ausgewechselt werden“, sagte CPR-Mitglied Ben Amor.

Selbst die Regierung ist tief gespalten
Tunisia's President Moncef Marzouki listens his national anthem at the European Parliament in Strasbourg, February 6, 2013. REUTERS/Jean-Marc Loos (FRANCE - Tags: POLITICS)
Trotz der angespannten Lage hält Präsident Moncef Marzouki an Parlaments- und Präsidentenwahlen noch in diesem Jahr fest. Die Wahlen könnten um zwei bis drei Monate auf einen Zeitraum zwischen Juni und Oktober verschoben werden, sagte Marzouki in einem am Sonntag ausgestrahlten Interview des Fernsehsenders Al-Jazeera.

Tunesien werde stabiler, wenn es eine neue Verfassung, einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament habe, sagte Marzouki. Dann könnten die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Angriff genommen werden. Gründe für die derzeitigen Probleme seien die lange Übergangsperiode zur Demokratie sowie eine schwache Regierung.

Arm vor der Revolution, arm danach

Marzouki beschrieb die tiefe Spaltung in Tunesien. Die größte Sorge der Ärmsten im Land sei: „Sie waren arm vor der Revolution, und sie werden nach der Revolution arm bleiben“, sagte der Präsident. Der andere Teil der Gesellschaft befürchte, dass die Islamisten herrschen könnten, die Scharia (islamische Rechtsprechung) und Religionsschulen eingeführt würden und Frauen eine Burka tragen müssten.

Ennahda-Chef Ghannouchi wies einen Vergleich der aktuellen Krise mit der Revolution von 2011, die zum Sturz von Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali geführt hatte, am Wochenende zurück: zurück. "Chokri Belaid ist nicht Bouazizi, und ich bin nicht Ben Ali“. Die Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis hatte 2010 Massenproteste in Tunesien ausgelöst und schließlich zur Flucht des Diktators Ben Ali geführt.

Nachdem Zehntausende Menschen am Freitag dem Trauerzug für Chokri Belaïd geleitet hatten, folgten am Samstag einige tausend Ennahda-Anhänger dem Aufruf zu einer Gegendemonstration. Nach einem Generalstreik und den Ausschreitungen vom Freitag herrschten am Wochenende aber weitgehend Ruhe und Ordnung. Geschäfte und Restaurants öffneten wieder.

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Soldiers help mourners carry the coffin of slain o
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Demonstrators burn documents of the Ennahda party,
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TUNISIA OPPOSITION LEADER ASSASSINATION
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Police officer reacts after teargas was used to br
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Tunisian protesters shout slogans as they clash wi
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Police officer fires teargas to break up a protest
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Couple mourns next to Tunisian flag during funeral
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Placard with an image of the late secular oppositi
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A police officer fires teargas to break up a prote
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A police officer fires teargas to break up a prote
Selbst die Regierung ist tief gespalten
17. Dezember 2010 Der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi verbrennt sich aus Verzweiflung über Behördenwillkür selbst. Empörung bricht sich Bahn, zwei Tage nach der Verzweiflungstat fordern Tausende auf einer Kundgebung Reformen und bilden den Keim zur tunesischen "Jasmin-Revolution" mit mehr als 200 Toten.

14. Jänner 2011 Präsident Ben Ali flieht nach 23 Jahren an der Macht ins saudiarabische Exil. Dort lebt er bis heute.

20. Juni 2011 In einem Prozess ohne Angeklagten verurteilt ein Gericht den Ex-Präsidenten wegen Veruntreuung von Staatsvermögen zu 35 Jahren Haft sowie einer Geldstrafe und Schadenersatz von umgerechnet 46 Milliarden Euro. Weitere Verurteilungen folgen.

23. Oktober 2011 Die unter Ben Ali als extremistisch verbotene, islamistische Bewegung Ennahda um Rachid Ghannouchi gewinnt die ersten freien Wahlen. Die Partei erreicht 90 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung.

11./12./13. Dezember Die verfassungsgebende Versammlung verabschiedet eine Übergangsverfassung. Damit wird der Weg geebnet zur Bildung einer Übergangsregierung unter Hamadi Jebali (Ennahda), die aber auf Bündnispartner angewiesen ist. Die Versammlung wählt den linksgerichteten Dissidenten und Menschenrechtler Moncef Marzouki aus der CPR-Partei (Kongress für die Republik), die sich mit der Ennahda verbündet hat, zum Staatspräsidenten.

14. Jänner 2012 Tausende feiern den ersten Jahrestag des Sturzes von Ben Ali. Am Rand der Feiern kommt es zu Protesten gegen die neue Regierung. Viele Tunesier kritisieren, dass sich die wirtschaftliche Lage seit der Revolution nicht verbessert habe.

19. Juli 2012 Ein Militärgericht in Tunis verurteilt Ben Ali wegen seiner Mitschuld am Tod von Demonstranten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.

14. September 2012 Bei einem Angriff auf die US-Botschaft in Tunis kommen mindestens vier Menschen ums Leben. Eine aufgebrachte Menschenmenge hatte aus Protest gegen ein amerikanisches Schmähvideo über den Propheten Mohammed die Botschaft attackiert.

6. Februar 2013 Unbekannte erschießen den Anführer der säkularen, oppositionellen Bewegung der demokratischen Patrioten, Chokri Belaid. In Tunis und anderen Städten versammeln sich Tausende Menschen zu Protestkundgebungen. Es kommt zu Ausschreitungen.

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