Jubeln und Scham
Als gegen 19:00 Uhr klar wird, dass Recep Tayyip Erdoğan die Wahl wohl gewinnen und für weitere fünf Jahre Präsident bleiben wird, sorgen als Erstes die Taxis dafür, dass es laut wird. Mit offenen Fenstern und bis zum Anschlag aufgedrehten Boxen fährt ein gelber Korso um den Platz. Die Wahlkampf-Hymne der AKP legt sich über die Innenstadt.
“Ich schäme mich heute für mein Land”, sagt Ozan. Der 22-jährige Wirtschaftsstudent hat seine Stimme - wie viele junge Erwachsene in der Hauptstadt - zweimal Kilicdaroglu gegeben. Wie die meisten Anhänger der Opposition war auch er vor zwei Wochen noch siegessicher. Dass Erdogan damals schon vorne lag, “war für mich ein Schock”, sagt er. “Heute war aber nichts anderes zu erwarten.”
Junge wollen Land verlassen
Ozan bekommt im Verlauf des Gesprächs mehrmals feuchte Augen. “Die Schere zwischen arm und reich wird in den nächsten fünf Jahren noch größer werden. Dabei haben wir so viele Probleme, die Wirtschaft liegt am Boden. Es ist nicht mehr schön, hier zu leben. Und ich habe keine Ahnung, wie sich das unter diesem Präsidenten jemals ändern soll.”
Mit Freunden und Familie habe er in den letzten zwei Wochen oft darüber gesprochen, was er im Falle eines Erdoğan-Sieges tun würde. “Es fällt mir schwer, das zu sagen, ich habe noch nie zuvor so gedacht”, sagt er und blickt hinüber zu den jubelnden Taxifahrern. “Ich liebe mein Land, aber heute ist für mich die Entscheidung gefallen, dass ich ins Ausland gehen werde.” Es gebe viele in seinem Umfeld, die so denken.
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Langsam wird klar: Wunsch der einen und Furcht der anderen wird Wirklichkeit, Erdoğan wird siegen. Vor der großen Taksim-Moschee auf der anderen Seite des Platzes sammen sich trotz des Regens immer mehr Menschen. Sie skandieren den vollen Namen des alten und neuen Präsidenten. Türkische Nationalflaggen sind ebenso zu sehen wie Fahnen der AKP oder blaue Tücher, auf denen das Antlitz Erdogans zu sehen ist.
In der Menge sind alle Altersgruppen vertreten: Von jungen Männern, die Leuchtraketen entzünden, bis zu einem zahnlosen Greis, der die Fahne Aserbaidschans schwenkt. Selbst Kleinkinder tanzen freudig zwischen ihren Verwandten. Mit Journalisten sprechen sie in diesem Moment aber alle nur ungern. “Ich kenne mich eigentlich nicht aus, ich durfte ja gar nicht wählen, kann also auch nichts zum Ergebnis sagen”, sagt Serkan, der eigentlich in Wien lebt und österreichischer Staatsbürger ist.
Sein Freund, der neben ihm steht, trägt die Türkei-Flagge um den Hals, begrüßt die anderen Feiernden immer wieder mit Handzeichen. Darauf angesprochen, meint er: “Das sind einfach unsere Handzeichen. Ich bin nur zum Feiern hier.”
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