Viele Baustellen im Land am Bosporus

Nach der Parlamentswahl am Sonntag zeichnen sich keine stabilen Verhältnisse ab, aber viele Probleme.

Bei der türkischen Parlamentswahl an diesem Sonntag konzentriert sich die Aufmerksamkeit darauf, ob die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan ihre Mehrheit im Parlament zurückerobern kann. Doch unabhängig davon, wer als Gewinner und wer als Verlierer aus der Wahl hervorgeht, steht die Türkei in den kommenden Monaten und Jahren vor einigen schwierigen Herausforderungen. Hier ein Überblick über die wichtigsten politischen Baustellen im Land am Bosporus:

Syrien-Krieg Erdogan und seine AKP verfolgen seit dem Ausbruch des Aufstandes gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad das Ziel, den Staatschef in Damaskus zu entmachten, um den Konflikt auf diese Art beizulegen. Dieser Plan kann allerdings spätestens seit der Intervention Russlands auf seiten Assads im September als gescheitert angesehen werden.

Ankara muss auf diese neue Lage reagieren. Erdogan hat angedeutet, dass er sich mit einem zeitlich begrenzten Machtverbleib von Assad für eine Übergangszeit anfreunden könnte. Die bisherige Opposition will im Falle eines Machtwechsels ohnehin eine Kehrtwende in der Syrien-Politik einleiten und die einseitige Parteinahme Ankaras für die Regimegegner beenden. Mit den jüngsten Anschlägen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in der Türkei und der nicht abreißenden Welle von Flüchtlingen hat der Syrien-Konflikt auch immer mehr direkte Folgen für den Nachbarn.

Flüchtlinge Mit mehr als zwei Millionen syrischen Flüchtlingen im Land steht die Türkei vor einer schwierigen Doppelaufgabe. Sie soll den Exodus von Syrern Richtung Europa eindämmen und gleichzeitig die Integration der Flüchtlinge in die türkische Gesellschaft fördern. Migrationsforscher verlangen, die Türkei müsse sich von der nach wie vor bestehenden Erwartung verabschieden, dass die Syrer eines Tages wieder nach Hause zurückkehren. Ein Großteil der Flüchtlinge wird auch dann in der Türkei bleiben, wenn der Krieg in ihrer Heimat beendet ist, sagen Fachleute voraus.

Doch mit einer besseren Integration wären unpopuläre Entscheidungen verbunden. So dürften Arbeitsgenehmigungen für die syrischen "Gäste" angesichts steigender Arbeitslosigkeit den Unmut vieler türkischer Wähler hervorrufen. Schon jetzt gibt es vielerorts Klagen über die syrische Konkurrenz auf dem schwarzen Arbeitsmarkt.

Europa Die Flüchtlingskrise hat das Interesse der Europäer an einer engen Zusammenarbeit mit Ankara und damit die türkische EU-Bewerbung neu belebt. EU-Spitzenpolitiker versprechen neuen Schwung für die türkische Kandidatur, wenn die Türkei den Flüchtlingsstrom stoppt. Noch vor Ende des Jahres will die EU neue Verhandlungsbereiche in den Gesprächen mit der Türkei eröffnen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte dies auch bei ihrem Besuch in Istanbul vor zwei Wochen in Aussicht gestellt.

In Ankara wiederum wirft das die Frage auf, ob die türkische Regierung wirklich bereit zu neuen politischen und wirtschaftlichen Reformen ist. Ein wichtiges Signal wäre ein Ende des in jüngster Zeit gewachsenen Drucks der Behörden auf die Medien. Nicht nur bei einem Wahlsieg der AKP ist es fraglich, ob das Land zum Reformkurs zurückkehren wird. Auch im Falle einer Koalition zwischen der AKP und der rechtsnationalen MHP wären Reformen im Sinne der EU zumindest fraglich.

Die Rolle Erdogans Der ehrgeizige Präsident agiert trotz der Neutralitätspflicht für den Staatschef in der Verfassung ganz so, als sei er immer noch AKP-Chef. Das Grundproblem liegt aber nicht in Erdogans forschem Verhalten, sondern in einem Systemfehler: Dieser Fehler ist die Konkurrenz von zwei direkt vom Volk gewählten Institutionen ohne genaue Abgrenzung der jeweiligen Befugnisse durch die Verfassung: Die Türkei, als parlamentarische Demokratie angelegt, hat seit dem vergangenen Jahr einen direkt gewählten Präsidenten. Ein Dauer-Konflikt zwischen Staatsoberhaupt und Parlament ist unausweichlich, weil die Verfassung in ihrer derzeitigen Form auf dieses Verhältnis gar nicht eingerichtet ist.

Erdogans Lösungsvorschlag für das Dilemma liegt in der Einführung eines Präsidialsystems, in dem der direkt gewählte Staatschef ähnlich wie in den USA alle Fäden in der Hand hält. Gegner kritisieren jedoch, dass Erdogans Plan zwar die Vollmachten eines US-Präsidenten vorsieht, die weit reichenden Befugnisse des US-Parlaments oder der US-Bundesstaaten aber ignoriert. Auch bei einer Niederlage der AKP am Sonntag dürfte Erdogan an seiner Vision festhalten – der Streit wird weitergehen. Zumal eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die AKP, mit der sie eine Grundgesetz-Reform im Alleingang durchziehen könnte, utopisch ist, selbst reine "Absolute" zeichnet sich laut Umfragen nicht ab.

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