Schlag gegen Regierungskritiker

Einst Erdogan-Anhänger, heute Kritiker: „Zaman“-Chefredakteur (er küsst die türkische Fahne) wird von Polizisten in Zivil abgeführt.
Türkische Polizei geht gegen Gülen-Anhänger vor: Zeitungen und Fernsehsender wurden durchsucht.

Hubschrauber in der Luft, mehrere Tausend Polizisten am Boden: Türkische Polizisten haben am Sonntag auf Befehl der Staatsanwaltschaft gut zwei Dutzend mutmaßliche Terroristen gestellt und festgenommen – doch es handelte sich nicht um Mitglieder von El Kaida oder dem "Islamischen Staat", sondern um Journalisten.

In Istanbul und anderen Provinzen tauchten die Polizisten in der Früh bei Vertretern der Zeitung Zaman, des Fernsehsenders Samanyolu TV sowie bei einigen früheren Polizeibeamten auf. Ihnen wird die Bildung einer bewaffneten Terrorgruppe vorgeworfen, die angeblich den Sturz der Regierung plante. Prominentester Verdächtiger war Ekrem Dumanli, Chefredakteur der Zaman, der lange zu den Anhängern des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gehörte, sich inzwischen aber zu einem scharfen Kritiker gewandelt hat. Dumanli wurde unter dem Applaus seiner Mitarbeiter von der Polizei aus der Redaktion geführt.

Kein Einblick in Akten

Wieso Dumanli plötzlich als mutmaßlicher Terrorist gilt, blieb nach der Festnahme zunächst offen: Laut Zaman verweigerte die Staatsanwaltschaft den Anwälten der Festgenommenen den Einblick in die Ermittlungsakten. Dass es sich ernsthaft um eine Jagd auf Terroristen handelte, glaubten ohnehin nur hartgesottene Erdogan-Anhänger. Der Rest des Landes war sich sicher: Die Festnahmewelle war eine Vergeltungsaktion von Erdogan gegen die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, zu der Zaman und Samanyolu gehören.

Wichtig ist dabei der Zeitpunkt: Am Mittwoch jährt sich erstmals das Bekanntwerden von Korruptionsvorwürfen gegen Erdogans Regierung. Gülen-treue Staatsanwälte in Istanbul beantragten damals Haftbefehle gegen Ministersöhne und die Politiker selbst. Erdogan reagierte mit Massenversetzungen im Polizei- und Justizapparat; neu eingesetzte Staatsanwälte und Richter stellten die Ermittlungen ein. Und siehe da: Jener Richter, der die Festnahmen gestern abnickte, hatte vor einigen Monaten alle Beschuldigten in der Korruptionsaffäre aus der Untersuchungshaft befreit.

Erdogan sieht in den Korruptionsermittlungen einen Versuch der Gülen-Anhänger, seine Regierung zu stürzen. Mehrfach hat er geschworen, die Bewegung zu zerschlagen. Die Festnahme von Dumanli und den anderen gestern gehörte zu diesem Versuch. Einige Beobachter gehen davon aus, dass in den kommenden Tagen weitere "Gülencis" hinter Gitter wandern könnten.

Erwartungsgemäß begrüßte die Regierung die Polizeiaktion als wohlverdiente Strafe für "jene, die Falsches getan haben", wie es Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoglu ausdrückte. Hingegen sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem "Putsch".

Neues Gesetz als Basis

Kritiker verwiesen darauf, dass erstmals ein neues Gesetz angewendet wurde, das den Sicherheitskräften bei der Verfolgung angeblicher Staatsfeinde mehr Macht gibt. Demnach muss bei Festnahmen kein dringender Tatverdacht mehr bestehen; es genügt ein "nachvollziehbarer Verdacht", der von Staatsanwälten und Richtern je nach Lage interpretiert werden kann. Selbst gemäßigte Beobachter wie der Kolumnist Murat Yatkin sprachen von einem Schlag gegen die Pressefreiheit.

Auf lange Sicht tue sich die Erdogan-Regierung aber keinen Gefallen, twitterte der Journalist Fehim Tastekin. Ungerechtigkeit sei wie ein Bumerang: "Eines Tages trifft sie den, der sie in Bewegung gesetzt hat."

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