50.000 Flüchtlinge sitzen fest

Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei: Die Front ist nur wenige Kilometer entfernt – die Grenze bleibt zumindest vorerst aber zu
Zehntausende warten in Syrien an der Grenze zur Türkei – Ankara will sie erst einmal in Syrien versorgen.

An der syrisch-türkischen Grenze bahnt sich eine humanitäre Tragödie mit unter Umständen weitreichenden politischen und eventuell auch militärischen Folgen an. Während die Großoffensive der syrischen Armee in Allianz mit der libanesischen Hisbollah, iranischen Einheiten und russischer Luftunterstützung in der Region Aleppo unvermindert anhält, kommen laufend mehr und mehr Vertriebene an die Grenze zur Türkei. Laut Angaben der staatsnahen türkischen Hilfsorganisation IHH werden derzeit 50.000 Menschen auf der syrischen Seite der Grenze betreut. Auf der syrischen Seite, wohlgemerkt – die türkischen Behörden haben die Übergänge geschlossen. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte Ankara nun auf, Flüchtlinge ins Land zu lassen.

Zwar kündigen die türkischen Behörden an, die Grenze im Notfall zu öffnen. Präsident Erdogan dazu: "Wenn sie an unsere Tür kommen und keine andere Wahl haben und es nötig werden sollte, werden wir diese Brüder einlassen." Aber dennoch wachsen die Befürchtungen, dass sich Ankara mit dieser Handhabe den Boden für die Durchsetzung eines lange gehegten Projekts ebnen könnte: Eine Pufferzone in Nordsyrien, in der Flüchtlinge Zuflucht finden könnten.

Aus Sicht Ankaras würde eine solche Zone zwei Probleme Lösen: Die Flüchtlingsproblematik (2,5 Millionen sind bereits in der Türkei); zugleich könnten so aber auch die zunehmend etablierten kurdischen Selbstverwaltungen in Nordsyrien zerschlagen werden (die Türkei betrachtet diese als unmittelbare Gefahr). Bisher gab es für die Einrichtung solcher Zonen allerdings keine Zustimmung, vor allem seitens der USA. Interessant ist jedoch, dass sich in den vergangenen Tagen erst Saudi-Arabien, dann Bahrain und jetzt auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ganz ungefragt bereit erklärten, Bodentruppen nach Syrien zu entsenden. Nachsatz: Sollte ein solcher Einsatz gegen den "Islamischen Staat" von den USA angeführt werden. Zugleich gab es Berichte, die Türkei würde starke Truppenverbände an der Grenze sammeln – vor allem nahe kurdischer Hochburgen in Syrien und weniger an den jetzt vom Flüchtlingsstrom direkt betroffenen Gebieten. Nicht zuletzt ist da aber noch die Wortwahl Erdogans in der Sache. Bezüglich der syrisch-russisch-iranischen Offensive im Großraum Aleppo sagte er gegenüber der Zeitung Hürriyet: "Die Türkei wird bedroht", die türkische Armee habe die volle Befugnis, jeglicher Bedrohung der nationalen Sicherheit zu begegnen.

Syriens Führung hat bereits unmissverständlich klar gemacht, eine Militärintervention zu Boden bekämpfen zu wollen. Diskutiert werden soll das Angebot Saudi-Arabiens, Bahrains und der VAE aber dennoch, hieß es seitens Washingtons.

Am Donnerstag sollen im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz dann Beratungen über eine Beilegung der Krise fortgesetzt werden. Währenddessen ziehen Armee und Alliierte den Ring um Aleppo enger. In Rebellengebieten in der Stadt leben laut Hilfsorganisationen geschätzte 350.000 Menschen, in den Vierteln unter Kontrolle der Regierung rund eine Million. Hinzu kommt das Umland. Die Offensive hat gerade erst begonnen – und die 50.000, die jetzt an der Grenze festsitzen, sind damit wohl erst die Vorhut einer absehbaren Massenflucht.

Die Lage wird immer dramatischer: Trotz aller Appelle an die Türkei zur besseren Grenzsicherung und dem Kampf gegen die Schlepperkriminalität kommen nicht weniger, sondern immer mehr Flüchtlinge in Griechenland an. Mehr als 68.000 Menschen setzten seit Jahresbeginn von der türkischen Ägäisküste zu den griechischen Inseln über. Das sind die neuesten Zahlen des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen.

Mit allen Mitteln der Politik soll nun die Türkei unter Druck gesetzt werden, zu liefern. Heute, Montag, reist Bundeskanzlerin Angela Merkel zu hochrangigen Gesprächen nach Ankara. Sollte es nicht rasch einen substanziellen Rückgang des Flüchtlingsstromes geben, kann auch die EU auf hart schalten: Es ist ja nicht so, dass nur die EU etwas von der Türkei will, Ankara strebt die Visa-Liberalisierung und neue Verhandlungen über die Verbesserung der seit 1995 bestehenden Zollunion mit der EU an. Merkel, sagen EU-Diplomaten, will mit dem türkischen Amtskollegen Tacheles reden.

Am Mittwoch stellt die EU-Kommission eine Bilanz vor, was die Türkei bisher von dem Flüchtlingspakt, das Ende November mit der EU vereinbart wurde, bereits umgesetzt hat. Dieses Abkommen enthält auch eine finanzielle Hilfe für die Betreuung von syrischen Kriegsflüchtlingen in Höhe von drei Milliarden Euro. Das Geld ist in voller Summe vorhanden, jetzt liegt es an der Türkei, entsprechende Projekte vorzulegen.

Krisentreffen Um rasch einen Ausweg aus der Flüchtlingskrise zu finden, kamen Sonntagabend auf Einladung von Parlamentspräsident Martin Schulz die Bundeskanzlerin und Frankreichs Staatspräsident François Hollande in Straßburg zu einem Krisentreffen zusammen.

Dabei wurde die Ankara-Reise ebenso besprochen wie Strategien gegen stärker werdende EU-feindliche Rechtsparteien und gegen den zunehmenden Nationalismus in der EU. Der Andrang der Flüchtlinge setzt nicht nur Merkel zu, das europäische Projekt steht auf dem Spiel.

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